Die anfängliche Aufbruchstimmung, die Julian Nagelsmann mit seinem Engagement als Bundestrainer rund um die Nationalmannschaft verursacht hatte, ist längst wieder verflogen. Die jüngsten Länderspiel-Pleiten gegen die Türkei und gegen Österreich haben den DFB zurück auf den Boden der Tatsachen geholt.
Wenige Monate vor dem Start der Heim-EM im kommenden Sommer steht die deutsche Nationalmannschaft ohne funktionierendes Spielsystem da. Außerdem hat sie in den vergangenen Jahren viel Kredit bei den Fans verspielt. Viele Anhänger:innen stellen sich bereits auf ein erneutes Vorrunden-Aus ein.
Die deutsche Öffentlichkeit diskutiert derzeit hitzig, was es denn brauche, um das DFB-Team endlich wieder wettbewerbsfähig zu machen. Neben den seit Jahren bestehenden Kaderlücken im Sturmzentrum und auf den Außenverteidiger-Positionen kommt dabei immer wieder die Debatte um die "deutschen Tugenden" auf.
Statt Schönspielerei solle sich die Mannschaft lieber auf die Basics konzentrieren, die die deutschen Nationalteams in der Vergangenheit ausgezeichnet haben: Laufen, Kämpfen, Härte zeigen. Sogar Julian Nagelsmann hatte nach der Niederlage gegen Österreich einen solchen Paradigmenwechsel angedeutet.
"Vielleicht", sagte Nagelsmann über die strauchelnde Nationalmannschaft, "müssen wir auf zwei Prozentpunkte Talent verzichten und zwei mehr 'Worker' reinwerfen." Beispielhaft verwies er auf Spieler wie Leon Goretzka, Robert Andrich und Grischa Prömel, die dieses Profil erfüllen würden.
Sein Vor-Vorgänger beim DFB, Ex-Bundestrainer Joachim Löw, hat diesbezüglich eine ganz andere Meinung. Löw, der schon Anfang Oktober die Debatte um deutsche Tugenden kritisiert hatte, hat jetzt erneut zu dem umstrittenen Thema klar Stellung bezogen.
Man müsse nun "taktische Lösungen und spielerische Elemente finden. Das sollte unser Ansatz und Anspruch sein im deutschen Fußball", sagte Löw gegenüber "Bild". Dass dem DFB-Team die deutschen Tugenden fehlten, sei nicht das Problem. "Nein, das ist mir eine zu billige und populistische Erklärung", sagte Löw. Besagte Tugenden habe die DFB-Auswahl nämlich "schon lange nicht mehr exklusiv. Meinen Sie, die Engländer oder die Argentinier kämpfen und rennen nicht genauso?"
Der 63-Jährige ist davon überzeugt, dass "die Einstellung unserer Spieler stimmt. Doch das reicht ja nicht, um auf hohem Niveau erfolgreich zu sein." Von Nagelsmann hat Löw eine hohe Meinung, wie er in dem Interview deutlich machte. "Er ist ein junger Trainer mit guten Ideen und schon viel Erfahrung", sagte der Weltmeistertrainer von 2014 über Nagelsmann. "Man darf ihn nach vier Spielen nicht infrage stellen. Ich bin sicher, dass er die Lösungen finden wird", beschwichtigte Löw.
Erst im März kommenden Jahres wird die Nationalmannschaft wieder zusammenkommen, um vor dem EM-Start im Juni zwei Testspiele zu absolvieren. Voraussichtlich werden die Gegner dann Niederlande und Frankreich heißen. Auch wenn die Paarungen noch nicht offiziell bestätigt sind: Fest steht, dass die Spiele für die DFB-Stars wegen der öffentlichen Wahrnehmung ganz heiße Tänze werden.
(mit Material von AFP)