Beschriebe man das Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Japan mit nur einem Sprichwort, wäre folgendes vermutlich das passendste: "Wer seine Chancen nicht nutzt, der wird bestraft". Dennoch muss die Niederlage gegen Japan zweigeteilt betrachtet werden. Einerseits zeigte Deutschland gutes Angriffsspiel, andererseits schlug Japan die DFB-Elf mit ihren eigenen Waffen – eine Analyse.
Viel wurde im Vorfeld des deutschen Auftaktspiels gegen Japan über die Besetzung der Stürmerposition bei der deutschen Nationalmannschaft philosophiert. Hier entschied sich Bundestrainer Hansi Flick für die Lösung mit Kai Havertz als "beweglichen Stürmer", der mit Thomas Müller und Jamal Musiala immer wieder im Angriff die Positionen wechselte.
Ein ebenso heiß diskutiertes Thema stellte die Konstellation in der Abwehrreihe dar. Flick setzte hier auf Niklas Süle als Rechtsverteidiger in einer Viererkette, während die Innenverteidigung durch Antonio Rüdiger und Nico Schlotterbeck gebildet wurde.
Im Spielaufbau formierten jene drei Spieler die erste Aufbaureihe, sie spielten quasi, im Gegensatz zum Spiel gegen den Ball, mit Ball in einer Dreierkette. Währenddessen spielte Linksverteidiger David Raum am Flügel in einer hohen Position.
Doch gerade der Dreieraufbau wirkte zu Beginn der Partie noch zögerlich und nicht sonderlich souverän. Innerhalb der Dreierkette waren insbesondere die Halbverteidiger Süle und Schlotterbeck sehr vorsichtig, spielten den Ball ohne großen Druck mehr quer als nach vorne. Dadurch mussten sich Joshua Kimmich und İlkay Gündoğan immer wieder weit fallen lassen, um den Ball nach vorne zu tragen.
Gerade das kompakte Zentrum der Japaner stellte Deutschland im Spielaufbau anfangs vor Probleme. Japan zielte darauf ab, mit zwei Viererketten, einer Spitze und einer hängenden Spitze, das Zentrum zu schließen und dort Ballgewinne zu provozieren. Dies gelang auch mehrfach in den ersten Minuten des Spiels und bot ihnen damit Kontermöglichkeiten. Da die größte Konterchance jedoch lediglich in einem Abseitstor (8. Minute) endete, kam Deutschland im ersten Durchgang noch ohne Gegentor davon.
Japans Pressing hatte nämlich auch eine Kehrseite. Nach anfänglich verhaltenem Auftritt wusste die DFB-Elf auch diese Kehrseite auszunutzen. Japans Problemstelle: Die Viererkette konnte nicht die komplette Breite des Feldes verteidigen. Deutschland spielte also mit Verlagerungen über das Zentrum auf die ballferne Seite immer wieder ihre Außenspieler frei, weil die deutschen Angreifer mit Kai Havertz, Jamal Musiala und Thomas Müller die Viererkette beschäftigten. Japans offensive Flügelspieler hatten immer wieder die Aufgabe, Druck auf die deutsche Dreierkette im Spielaufbau auszuüben oder in das Zentrum einzurücken. Ein Schachzug, der sich gegen das deutsche Angriffssystem als suboptimal herausstellte.
Konkret: Japans rechter Flügelspieler, Junya Ito, sah sich immer wieder mit dem Problem konfrontiert, einerseits Raum am Flügel zu verteidigen und andererseits im Zentrum vor der Abwehr zu unterstützen – ein klassisches Zuordnungsproblem, welches Deutschland den nötigen Raum gab. Deutschlands wichtigster taktischer Aspekt im Angriffsspiel war in der Folge deren Dominanz am linken Flügel mit Linksverteidiger David Raum.
Als sich Ito dann in der 32. Minute dafür entschied, Musiala im Zentrum zu decken, konnte David Raum den Elfmeter zum 1:0 herausholen. Ein Spielzug, wie er gegen Japans Defensivtaktik wohl kaum besser hätte sein können.
Was vielen Zuschauern in den Köpfen blieb, war die daran anschließende Drangphase der deutschen Mannschaft. Japan entschied sich Raum am Flügel mit Ito enger zu verteidigen, dieser folgte dem Außenverteidiger auf der Außenbahn. Dies resultierte dann aber auch in einem Mangel an Druck auf die ballführenden Mittelfeldspieler der deutschen Mannschaft. So konnte sich das Nationalteam immer mehr am japanischen Strafraum festsetzen. Im Gegenzug fehlte Japan außerdem das Personal für mögliche Konterangriffe und somit griff das deutsche Gegenpressing immer besser. Nach einer Dominanz-Phase ging es für das deutsche Team in die Halbzeitpause.
Auch aus diesen Gründen, sah sich Japan dazu gezwungen, eine Umstellung auf eine Fünferkette vorzunehmen. In einem 5-4-1 hatte Japan gegen das deutsche Angriffssystem im 2. Durchgang besseren Zugriff. Die japanischen Außenverteidiger der Fünferkette konnten Deutschlands Außenspieler aufnehmen, insbesondere David Raum, während die drei Innenverteidiger die deutschen Offensive um Thomas Müller, Jamal Musiala und Kai Havertz verteidigten. Prinzipiell eine Situation, mit der Japan auf dem ganzen Feld "Mann-gegen-Mann-Zuordnungen" schaffen konnte. Eine kurzzeitige Unterzahl im Zentrum, wenn sich einer der deutschen Angriffsspieler ins Mittelfeld fallen ließ, nahm Japan in Kauf.
Diese Herangehensweise erforderte Mut, da die 1-gegen-1-Situationen natürlich auch ein defensives Risiko darstellten. War ein deutscher Angreifer in der Lage das 1-gegen-1 zu lösen, standen die restlichen Japaner vor dem Problem, ihren eigenen Gegenspieler zu verteidigen oder auf den Ballführenden rauszurücken. Jamal Musiala stellte deshalb immer wieder seine Qualität im Dribbling unter Beweis und kreierte einige der größten deutschen Möglichkeiten des Spiels (50. und 60. Minute). Es war die deutsche Chancenverwertung, die die Japaner weiterhin im Spiel hielt.
Die neue Taktik der Japaner beinhaltete allerdings auch ein mutigeres Offensivspiel, mit einer Dreierkette und hoch aufrückenden Flügelspielern. Eine klare Pressinghöhe der deutschen Mannschaft, auf der ein Ballgewinn provoziert werden sollte? In einigen Fällen Fehlanzeige! Eine nominelle Überzahl im Zentrum mit drei zentralen Mittelfeldspielern gegen die japanische Doppelsechs wussten die Deutschen nicht für sich zu nutzen. In der eigenen Hälfte bekam Deutschland zunehmend Zugriffsprobleme. Dabei verfolgte Japan einen ähnlichen taktischen Plan wie Deutschland in der ersten Halbzeit und schlug Flicks Team sprichwörtlich mit den eigenen Waffen.
Die japanischen Außenspieler in der neuen Grundformation konnten, ähnlich wie Deutschland im ersten Durchgang, gegen die deutsche Viererkette eine Überzahl herstellen. Mit teilweise fünf Spielern in letzter Linie, war Deutschlands Viererkette überfordert alle Angreifer zu verteidigen. So konnte Japan mit teils simplen hohen Chipbällen einen Angreifer zentral im Strafraum freispielen, und Deutschland von Glück reden, nicht bereits in der 72. Minute den Ausgleich zu kassieren.
In anderen Situationen wiederum, verschob die deutsche Viererkette kompakt, hatte jedoch Probleme, die komplette Breite des Feldes zu verteidigen. In einer solchen Szene konnte Japan über die deutsche rechte Seite angreifen und nach einem tiefen Pass den Ausgleich erzielen.
Deutschland kassierte den Treffer, weil die Verteidigung in der Abstimmung des taktischen Verhaltens wenig klar wirkte. Leon Goretzka als freier Mittelfeldspieler vor der Abwehr und ohne direkten Gegenspieler schob zwar Richtung Rechtsverteidiger Niklas Süle, um eine Überzahl gegen den Japaner herzustellen, beide schoben jedoch wenig aktiv Richtung Ball. Da auch kein DFB-Profi den tiefen Laufweg des japanischen Angreifers Takumi Minamino aufnahm, kam dieser zum freien Abschluss im Strafraum. Eine Verhaltensweise, die dem Team von Hansi Flick in der Folge ihre Führung kosten sollte, weil Ritsu Doan den von Manuel Neuer parierten Schuss zum 1:1 verwertete.
Auch in der Folge wirkte der deutsche Defensivverbund nicht immer sattelfest. Ein vermeintlich einfacher langer Ball hinter die Abwehr erreichte Takuma Asano, der den 2:1-Siegtreffer erzielte. Unabhängig jeglicher Zahlenverhältnisse auf dem Platz hatte Deutschlands Abwehrkette ihre einheitliche Höhe verloren und Niklas Süle als ballferner Außenverteidiger das Abseits aufgehoben. Individual- und gruppentaktische Fehler kosteten Deutschland somit den Sieg gegen Japan.
Es bleibt zu sagen: Das starke deutsche Angriffsspiel brachte sie nicht nur in Front, sondern ermöglichte auch das Erzielen weiterer Treffer. Trotz Umstellung Japans wirkte das Offensivspiel sehr variabel, mit Spielzügen über die Flügel und durch das Zentrum. Allerdings blieben Möglichkeiten auf einen weiteren Treffer ungenutzt, was in der Schlussphase der Partie bitter bestraft wurde.
Das Spiel hinterlässt aber auch Zweifel an der defensiven Stabilität. Die Umstellung Japans, ähnlich wie das deutsche Team eine Überzahl mit hohen Außen gegen die Viererkette herzustellen, erforderte Mut. Auch wenn es, durch die defensive Anfälligkeit, ein wenig wie ein "Spiel mit offenem Visier" wirkte, zahlte sich die Herangehensweise für das Team von Trainer Hajime Moriyasu aus. Deutschland fand defensiv zu wenig Lösungen, die japanische Schlussoffensive mit ihrer Viererkette zu verteidigen. Die deutsche Defensive scheint daher die Achillesferse des Teams zu bleiben und wird im nächsten Gruppenspiel gegen Spanien vermutlich erneut auf die Probe gestellt.