"Ich habe wirklich nicht daran geglaubt. Die Vorhersagen sahen nicht gut für uns aus", erklärt Sarah Polley mir, der watson-Redakteurin im Interview. An dem Tag, an dem die Oscar-Nominierungen für 2023 bekanntgegeben wurden, war Regisseurin Polley beim Arzt. Sie hatte schlicht nicht damit gerechnet, dass ihr Film "Die Aussprache" (im Original: "Women Talking") berücksichtigt werden würde.
Am Ende standen aber sogar zwei Nominierungen in wichtigen Rubriken zu Buche. Das auf dem gleichnamigen Roman von Miriam Toews basierende Drama ist in den Kategorien "Bester Film" und "Bestes adaptiertes Drehbuch" im Rennen.
Als ich sie in einem Berliner Hotel treffe, setze ich erst dazu an, am anderen Ende des Tisches Platz zunehmen – eine Gewohnheit beziehungsweise Sicherheitsmaßnahme, die sich während der Pandemie ganz unbewusst bei mir eingeschlichen hat. Sarah Polley bietet mir aber sofort den Stuhl gleich neben sich an. Auf jede Frage antwortet sie gleichermaßen prägnant und souverän, egal ob es um Berufliches oder eher Privates geht. Kühl wirkt sie dabei aber zu keiner Sekunde. Einen Oscar-Triumph gönnt man ihr sofort.
Wie schon des Öfteren in den letzten Jahren setzt die Academy durchaus ein emanzipatorisches Zeichen, denn "Die Aussprache" ist ein feministischer Film mit einem fast ausschließlich weiblichen Cast um Rooney Mara ("Verblendung"), Claire Foy ("The Crown") und Frances McDormand ("Fargo").
Erzählt wird die Geschichte einer abgeschottet lebenden Religionsgemeinschaft, regelmäßig werden Frauen nachts unter Drogen gesetzt und von Männern aus der Kolonie missbraucht. Eines Tages finden sich die Frauen zusammen und beraten, was zu tun ist. Die Optionen:
Die Benachteiligung der Frauen zeigt sich auf zahlreichen Ebenen, nicht einmal Rechnen und Schreiben dürfen sie erlernen. Unterstützt bei ihrer Abstimmung werden sie von nur einem Mann: dem sensiblen Lehrer August (Ben Whishaw), dessen Mutter einst aus der Gemeinschaft verbannt wurde, weil sie Vorgänge und Autoritäten hinterfragte.
"Die Aussprache" ist ein reiner Dialogfilm, dabei aber spannender als die meisten Thriller und Action-Spektakel. Die Frauen diskutieren, streiten, manche ändern ihre Meinung im Verlauf der Handlung. Auf der Hand liegt nur eines: Eine einfache Lösung gibt es nicht. Viele Fragestellungen des Dramas um Schuld und Vergebung sind letztlich zeitlos.
Auch, wenn die Prämisse auf den ersten Blick darauf schließen lassen könnte: "Die Aussprache" ist kein Film, der sich pauschal gegen Männer positioniert. "Ich glaube nicht, dass sie eine Gesellschaft komplett ohne Männer erschaffen wollen. Sie möchten herausfinden, wie man eine Gemeinschaft aufbaut, die gerechter ist", stellt Sarah Polley gegenüber watson zu ihren Protagonistinnen klar. Dazu ergänzt sie:
Einige der Frauen sind von ihren religiösen Anschauungen geleitet und fürchten, ihnen könnte im Himmel die Erlösung verwehrt werden, wenn sie im Diesseits mit Gewalt auf Gewalt reagieren. Polley betont, dass die weiblichen Figuren am Ende in Einklang mit ihrer Überzeugung handeln. Die Gruppe treffe daher für sich die richtige Entscheidung – "ich kann aber nicht sagen, dass das für jeden so gilt".
Polley selbst ist zwar nicht gläubig, kann die Positionen religiöser Menschen aber nachempfinden: "Es kann sein, dass ich mich früher als Atheistin bezeichnet habe. Ich bin vielleicht eher agnostisch. Trotzdem bin ich stark am Thema Glaube interessiert. Daher bedurfte es keiner großen Anstrengung, mich in die Frauen hineinzuversetzen."
Die Regisseurin steht bereits seit ihrer Kindheit im Rampenlicht und geht offen mit ihren eigenen Traumata um. Als Achtjährige stand sie für den ehemaligen Monty-Python-Star Terry Gilliam vor der Kamera, später warf sie ihm vor, am Set nicht für genug Sicherheit bei riskanten Szenen gesorgt zu haben.
Nachdem sich die Metoo-Bewegung geformt hatte, schrieb sie einen Gast-Artikel in der "New York Times" und berichtete von ihren Erfahrungen mit Männern in Hollywood. Das Filmemachen hilft ihr heute, mit der Vergangenheit Frieden zu schließen:
Bei der Gelegenheit äußert sie sich auch zu den Bedingungen an ihrem eigenen Filmset: "Wir hatten einen Therapeuten am Set, der jederzeit verfügbar war. Wenn jemand eine Pause brauchte, wurde eine Pause eingelegt. Außerdem hatten wir kürzere Arbeitstage als üblich. Wir wollten so bedachtsam und vorsichtig wie nur möglich sein."
Ihre Arbeit sieht sie sogar als eine Form von Aktivismus – zumindest im Fall von "Die Aussprache". Es sei "Aktivismus in der Weise, an einer Konversation teilzunehmen".
Generell urteilt Sarah Polley, dass sich durch die Metoo-Bewegung manches zum Besseren geändert hat. "Es gibt jetzt einen Dialog darüber, was ein sexueller Übergriff und was sexuelle Belästigung ist – darüber, welches Verhalten in Ordnung ist und was nicht", fasst sie zusammen, gibt aber auch zu bedenken: "Derzeit erleben wir eine große Gegenbewegung. Die Männerrechtsbewegung war wohl nie aktiver."
Als konkretes Beispiel nennt sie den Wibel rund um den Unternehmer Andrew Tate, dessen frauenfeindliche Äußerungen wiederholt zu Kontroversen führten und der auf eine große Anhängerschaft blickt. Sarah Polleys Fazit lautet daher: "Von einem geradlinigen Fortschritt kann keine Rede sein."
Ihr letzter Film vor "Die Aussprache" erschien 2013 und die Regisseurin gesteht, sich noch ein wenig abgekoppelt von der Filmindustrie zu fühlen: "Ich bin gerade dabei, zurückzukommen." Was ihren Filmkonsum betrifft, zeigt sie sich aber sogar offener als einige ihrer männlichen Kollegen (darunter Martin Scorsese), die in den letzten Monaten und Jahren gegen den Kino-Boom von Franchise-Filmen und Comic-Adaptionen wetterten. Mit einem Lächeln auf den Lippen offenbart sie:
Einen überraschenden Moment hält das Gespräch schließlich bereit, als Sarah Polley auf die Parallelen zwischen "Die Aussprache" und "The Handmaid's Tale" angesprochen wird. Sie liebe sowohl die Serie als auch die Autorin Margaret Atwood, daher hat sie an dem Vergleich nichts auszusetzen. So weit, so gut.
Als sie allerdings darauf hingewiesen wird, dass beide Produktionen den The-Monkees-Song "Daydream Believer" verwenden, entgleisen ihr kurz die Gesichtszüge. Der Grund: "Der Cutter von 'The Handmaid's Tale' [Christopher Donaldson, Anm. d. Red.] war auch Cutter bei 'Die Aussprache', und würde den Song daher nicht noch einmal bei uns verwenden. Wenn doch: Heilige Scheiße!"
Ich suche ihr kurzerhand im Netz die Playlist zu "The Handmaid's Tale" heraus, Sarah Polley, irgendwo zwischen belustigt und entsetzt, fotografiert mein Handy-Display, um später ihren Cutter zu konfrontieren. Wie die Sache ausgegangen ist, weiß ich leider nicht. Sicher sagen kann ich aber: Sarah Polley zählt zu den liebenswürdigsten Prominenten, die ich bislang kennenlernen durfte.