Seit nun über zwei Wochen sieht sich Rammstein-Sänger Till Lindemann mit Vorwürfen konfrontiert. Die aktuelle Europa-Tour der Band geht bislang wie geplant vonstatten, am Rande der München-Shows kam es jedoch zu Protest-Aktionen. Mehrere dutzend Aktivist:innen, die sich für Opfer sexueller Gewalt einsetzen, gerieten dabei mit Fans aneinander und wurden mitunter beschimpft.
Innerhalb der Fan-Gruppen sind die Reaktionen auf die Anschuldigungen allerdings sehr unterschiedlich. Im Zentrum steht die Frage: Kann man ein Konzert von Rammstein derzeit noch unbeschwert genießen?
Kurz vor den München-Konzerten waren beim Eventim-Fansale plötzlich wieder zahlreiche Karten für die seit Monaten ausverkauften Auftritte zu haben. Fans, die einen Besuch der Shows nicht mehr mit sich vereinbar können, versuchen, ihre Tickets wieder loszuwerden. Einige kommunizieren dies auch offen bei Social Media.
Der Weiterverkauf gestaltet sich aber etwas kompliziert, da die Karten personalisiert sind und beim Einlass ein Ausweisdokument verlangt wird. Wird ein Ticket beim Fansale erworben, stellt der Anbieter eine komplett neue Karte aus, die alte verliert ihre Gültigkeit.
Dies ist einerseits im Interesse der Fans, denn durch die Personalisierung sollen Mondpreise auf dem Schwarzmarkt unterbunden werden. Eventim kann festlegen, dass die Karten beim Resale nicht über dem Originalpreis weiter veräußert werden und behält grundsätzlich die Kontrolle.
Die Umpersonalisierung ist andererseits mit einem gewissen Aufwand verbunden, von heute auf morgen kann Eventim einem solchen Antrag nicht nachkommen. Das heißt auch: Wer sich ganz kurzfristig entscheidet, sein Ticket zu verkaufen, hat ein Problem. Zwar heißt es, eine Umpersonalisierung sei "auch am Showtag vor Ort möglich", doch nur "im Ausnahmefall". Wer außerdem nicht am Veranstaltungsort wohnt, müsste letztlich doch dorthin reisen, obwohl ja gerade kein Interesse am Konzert mehr besteht.
Einfach zurückgeben lassen sich die Karten auch nicht. Die Gründe, aus denen der Anbieter eine Rückgabe zulässt, sind eng abgesteckt – und der Verweis auf die Vorwürfe ist gerade nicht erfasst. Eine missliche Situation. Es ist keineswegs das erste Mal, dass Vorwürfe gegen Stars erhoben werden und Fans daraufhin Karten abgeben möchten. Daher wäre es wünschenswert, dass Eventim und Co. dies für die Zukunft gesondert regeln.
Dem Weiterverkauf voran geschaltet ist aber natürlich eine persönliche Abwägung. Sex und Gewalt spielen in Rammstein-Texten eine große Rolle, was es eigentlich unmöglich macht, die Anschuldigungen auch nur für zwei Stunden zu vergessen. Zwar wurde der Song "Pussy" jetzt von der Setlist gekickt (inklusive Penis-Kanone), "Du riechst so gut" performt die Band aber nach wie vor. Bei Rammstein ging es immer auch um Provokation, nun wird Frontmann Till Lindemann genau davon eingeholt.
Mit dem Weiterverkauf von Karten setzen Fans (beziehungsweise ehemalige Fans) allerdings erst einmal "nur" ein Zeichen für sich selbst, denn: Sobald ein Ticket erstmalig verkauft ist, steht das Geschäft. Der Band und dem Veranstalter ist es letztendlich egal, wer zum Konzert kommt.
Eine Option ist es natürlich, die Karte schlicht verfallen zu lassen und nicht weiterzuveräußern, womit ein persönliches finanzielles Opfer erbracht wird. Würden das viele Menschen tun, fiele irgendwann auf, dass Lücken auf den Plätzen im Stadion bleiben, obwohl die Show offiziell ausverkauft ist. Diverse Medien würden es wohl aufgreifen. Auch hier gilt aber: Das Geld ist schon geflossen.
Bei der Abwägung ist vor allem eines wichtig: Die Anschuldigungen ernst zu nehmen. Dies betont auch die Band selbst in einem Statement, in dem es heißt:
Im nächsten Satz merken die Musiker dann an, dass auch sie das Recht haben, nicht vorverurteilt zu werden.
Die Unschuldsvermutung ist ein zentraler Bestandteil des Rechtssystems, wird von Fans jedoch teilweise falsch interpretiert, nach der Devise: Wenn kein gerichtlicher Schuldspruch vorliegt, muss und "darf" mich das Ganze als Einzelperson nicht interessieren. Die Unschuldsvermutung verbietet aber gerade nicht, sich privat in den Fall einzulesen und persönliche Konsequenzen zu ziehen. Also zum Beispiel, den Entschluss zu fassen, Rammstein nicht mehr live sehen zu wollen.
Als spannend erweist sich der Blick in die Zukunft. Manche Fans gehen vor allem deshalb noch zu den Konzerten, weil Anfahrt und Unterkunft bereits seit Langem gebucht waren. Sie haben ein mulmiges Gefühl. Werden sie auch bei der nächsten Tour dabei sein, sollte es noch eine geben? Fraglich.
Wie viel Kredit die Band durch die Vorwürfe gegen Lindemann letztendlich eingebüßt hat, wird sich demnach bei künftigen Auftritten, für die es jetzt noch keine Karten gibt, wohl sehr viel klarer zeigen als im Moment.
Nachtrag der Redaktion: Die Staatsanwaltschaft Berlin hatte im Juni nach den Vorwürfen gegen Till Lindemann Ermittlungen aufgenommen. Diese wurden Ende August eingestellt. Die Auswertung der Beweise habe keinen hinreichenden Tatverdacht ergeben, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Den entsprechenden Artikel findet ihr hier.