Das Echte im Lärm: Wie Bruce Springsteen zu sich selbst fand
Wie lockt man die Leute im Streaming-Zeitalter ins Kino? Ein bewährtes Mittel sind Rockstar-Biopics. In den letzten Jahren liefen Filme über Freddie Mercury, Elton John, Elvis Presley, Bob Marley und Bob Dylan. Weitere sind in der Pipeline. "Bond"-Regisseur Sam Mendes will die Beatles gleich in vier Filmen verewigen, je einen über John, Paul, George und Ringo.
Nun kommt ein Film in die Kinos über einen, den man als Titan der Rockmusik bezeichnen darf: Bruce Springsteen. Seit 50 Jahren gehört der "Boss", der in einfachen Verhältnissen in New Jersey aufwuchs, zu den Superstars des Showbiz. Und zu den "guten Amerikanern": Springsteen macht kein Geheimnis daraus, wie sehr er Donald Trump verabscheut.
"Springsteen: Deliver Me From Nowhere" von Regisseur Scott Cooper aber ist keine simple Heldengeschichte. Vielmehr beschränkt sich der Film auf einen kurzen und düsteren Abschnitt im Leben von Bruce Springsteen (gespielt von Jeremy Allen White). Der Titel bezieht sich auf eine identische Zeile in den Songs "State Trooper" und "Open All Night".
Die Zukunft des Rock'n'Roll
Zu finden sind sie auf dem Album "Nebraska" von 1982, das in mancher Hinsicht ein Wendepunkt in Springsteens Karriere war. Seine Entstehung hat der Autor Warren Zanes in einem Buch geschildert, auf dem Scott Coopers Film basiert. Der "Boss" befand sich damals nach ersten Erfolgen mit 32 Jahren in einer tiefen persönlichen und künstlerischen Krise.
Begonnen hatte es 1974, als der Musikkritiker Jon Landau ein Konzert von Springsteens E-Street-Band besuchte. Danach schrieb er einen prophetischen Satz: "Ich habe die Zukunft des Rock’n’Roll gesehen." Kurz danach gelang Springsteen mit dem Superhit "Born to Run" der große Durchbruch – und Landau (Jeremy Strong) wurde sein Manager.
Erinnerungen an den Vater
Es folgte das Erfolgsalbum "The River" und eine ebenso erfolgreiche Tour, doch nach dem letzten Konzert (der Film beginnt damit) fühlt sich Springsteen ausgebrannt. Er zieht sich zurück in sein Haus in Colts Neck und sucht nach Inspiration. Dabei wird er verfolgt von Erinnerungen an den alkoholkranken und gefühlskalten Vater Douglas (Stephen Graham).
In seinem Schlafzimmer arbeitet der "Boss" an Songs, die er mit einem relativ simplen Vierspur-Gerät aufnimmt. Darunter sind einige aus dem Nachfolgealbum von "Nebraska", das ihn endgültig in die Megastar-Sphäre katapultieren wird: "Born in the USA". Daneben flüchtet er sich in eine Affäre mit der alleinerziehenden Kellnerin Faye (Odessa Young).
Inspiriert von Serienkiller
Sie ist eine fiktive Figur oder vielmehr ein "Kondensat" aus diversen Kurzzeit-Beziehungen, die Springsteen in jener Zeit hatte. Sie scheiterten auch an seinen Stimmungsschwankungen und Panikattacken, die sich mit der Zeit als eine Depression herausstellten. Schließlich ist er bereit, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er tut das bis heute.
Bei den neuen Songs lässt sich Bruce durch den Kultfilm "Badlands" von Terrence Malick inspirieren. Er schildert die Geschichte des Serienkillers Charles Starkweather, der im Bundesstaat Nebraska elf Menschen umgebracht hat. Das Album sollte ursprünglich "Starkweather" heissen, doch Springsteen liess es letztlich bleiben.
Ohne Singles, Werbung und Tour
Die Aufnahmen im Studio befriedigen ihn nicht, weshalb er einen folgenschweren Entscheid trifft. Er will "Nebraska" genau wie auf der Demokassette veröffentlichen, rau und "unplugged". In einer Schlüsselszene des Filmes schildert er seinem Manager und engen Vertrauten Jon Landau, was ihn antreibt: "Ich suche etwas Echtes im ganzen Lärm."
Bruce Springsteen verlangt, dass "Nebraska" ohne Singles, Werbung und Tour erscheint, zum Entsetzen der Plattenbosse, die das Projekt ohnehin skeptisch sehen. Landau aber verteidigt ihn eisern, auch wenn die Produktion eines Albums aus einer "hüllenlosen" Kassette (ein Running Gag des Filmes) im Vinyl-Zeitalter gar nicht so einfach ist.
Erstklassige Besetzung
Die Befürchtungen der Plattenfirma sind nicht unberechtigt. "Nebraska" ist kommerziell ein eher durchschnittlicher Erfolg. Künstlerisch aber gilt das Album gerade wegen seiner rudimentären Machart als eines von Springsteens Meisterwerken. Es befreit ihn aus seiner Schaffenskrise, und am Ende kommt es sogar zu einer Versöhnung mit dem Vater.
"Deliver Me From Nowhere" wirkt manchmal etwas unfertig und passt genau deshalb zur Entstehung von "Nebraska". Und die Besetzung ist erstklassig. Jeremy Allen White war bislang als Seriendarsteller ("The Bear") bekannt. Nun verkörpert er Bruce Springsteen mit einer Eindringlichkeit, die das Objekt der Darstellung zu Lobeshymnen veranlasste.
Eine vielschichtige Figur
Mehr noch: Nach einer Hörprobe gab ihm der "Boss" die Erlaubnis, seine Songs selbst zu singen. Wenn das zutrifft, macht es White verdammt gut. Doch auch die Nebendarsteller sind exzellent, wobei dies bei "Adolescence"-Mastermind Stephen Graham und Jeremy Strong (er brillierte zuletzt als Donald Trumps "Advocatus Diaboli" Roy Cohn in "The Apprentice") niemanden erstaunt.
Bruce Springsteen ist eine vielschichtige Figur. Er ist ein x-facher Millionär mit einem Herz für Außenseiter und die "Working Class". Seine Songs oszillieren zwischen Pathos und Intimität. Er zieht nach Hollywood und heiratet ein Model. Er zieht zurück nach Colts Neck und heiratet seine Background-Sängerin, mit der er seit über 30 Jahren zusammen ist.
Noch mit 76 gibt er Konzerte, die bis zu vier Stunden dauern. Der Autor dieser Zeilen hat seit den 1980er-Jahren mehrere besucht und es nie bereut. Live ist der "Boss" ein Naturereignis. Sein Leben bietet mehr als genug Stoff für ein episches Rockstar-Biopic. Scott Cooper hat darauf verzichtet, und gerade deshalb ist sein Film sehenswert.
"Springsteen: Deliver Me From Nowhere" läuft ab Donnerstag in den Kinos.