Doch, die Oscars sind wichtig. Die Filmindustrie befindet sich in einer Krise, künstlerisch wie wirtschaftlich. Filmschaffende kämpfen um ihre Lebensgrundlage und müssen ihren Berufsstand zusätzlich gegen aufkeimende KI-Ambitionen der Studios verteidigen. Bei den Oscars stehen echte Menschen auf der Bühne. Das Werk, das Erzeugnis tausender individueller Bemühungen, wird gefeiert – mit allem, was da so dranhängt. Von der Regisseurin bis zum Schnittmeister.
Und natürlich bieten die Oscars die Qualitätsorientierung schlechthin für Menschen, die sich nicht jede freie Minute ihres Tages mit Filmen beschäftigen – also ein Großteil des potenziellen Publikums. Das Oscar-Siegel Bester Film hat Gewicht. Es verkauft Kinokarten, Blu-rays, Streaming-Abos.
Deshalb wäre der Sieg von "Emilia Pérez" in diesen Zeiten ein katastrophales Signal gewesen.
Mit unfassbaren 13 Nominierungen startete das Gangster-Musical in die Verleihung, die in der Nacht von Sonntag auf Montag über die Bühne ging.
Das war geradezu unerklärlich. "Emilia Pérez" ist, sachte ausgedrückt, kein guter Film. Er steht auf zwei Säulen: einer Trans-Geschichte, die man so tatsächlich noch nie irgendwo gesehen hat. Es geht um eine mexikanische Kartell-Chefin, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzieht, das Gangster-Leben aufgibt und sich fortan Emilia Pérez nennt. Dazu kommt ein, nun ja, origineller Musical-Ansatz. Keine der beiden Säulen kann den Film tragen.
Nicht ein Song bleibt (positiv) in Erinnerung, was ein Musical so erstmal hinkriegen muss. Dieser inzwischen berüchtigte Ausschnitt steht repräsentativ für den krampfig-unmelodischen Stil der meisten Lieder:
Auch die Aufbereitung der Trans-Thematik wurde in weiten Teilen der Community kritisiert. Dazu kommen Probleme bei der Repräsentation Mexikos, der größtenteils nicht mexikanischen Besetzung und den seltsamen Dialogen.
Die Trans-Thematik machte den Fall "Emilia Pérez" zusätzlich kompliziert. Als "woke" gebrandete Filme werden oft mit gezielt gesteuerten Hasskampagnen überzogen. Dafür reicht dem rechts-konservativen Popkulturflügel meist schon die Besetzung einer fiktiven Märchenfigur mit einer afroamerikanischen Schauspielerin. Auch das gehört zu der Rechnung dazu, schützt "Emilia Pérez" aber nicht vor berechtigter Kritik.
Selten ging die Schere zwischen der Anzahl an Oscar-Nominierungen und der Bewertung des Publikums so weit auseinander wie bei "Emilia Pérez". Jacques Audiards Werk heimste Nominierungen in allen wichtigen Kategorien ein, darunter eben auch Bester Film. In der Oscar-Geschichte waren nur zwei Filme in mehr Kategorien vertreten als "Emilia Pérez".
Das Musical hätte zu einem der eindrücklichsten Beispiele dafür werden können, wie wirr der Jury-Körper des wichtigsten Filmpreises der Welt seine Sieger:innen manchmal auswählt. Effektive (und teure) Kampagnen, emotionale Narrative, ein unerwartetes Momentum können gerade in knappen Jahren bizarre "Beste Filme" hervorbringen.
"Emilia Pérez" wurde mit dem legendären, da heute verstörend daherkommenden Sieg des Rassismusdramas "Crash" (2004) gegen die Liebesgeschichte "Bokeback Mountain" verglichen.
Auch der Oscar-Triumph des komplett trivialen Gehörlosen-Melodrams "Coda" (2022) lässt sich ein paar Jahre später kaum noch logisch herleiten. Nur über eine immerhin emotionale Komponente: "Coda" ist sympathisch – was "Emilia Perez" größtenteils abgeht.
Wovon ließ sich die Academy bei ihrem Nominierungsregen reiten? Vielleicht hatten viele der über 10.000 Mitglieder den Eindruck, bei "Emilia Pérez" endlich mal auf einen modernen, diversen Teilnehmer zu setzen. Eine Überkorrektur nach den berechtigten Diversitäts-Debatten der letzten Jahre.
Vielleicht spielte der Sieg des Films beim Festival in Cannes eine Rolle. So konnte innerhalb einer Branchen- und Kritiker-Elite ein Hype wachsen, der lange nicht durch ein "normales" Publikum auf die Probe gestellt wurde. Solche Dynamiken kommen immer wieder vor, aber sie führen in der Regel nicht zu 13 Oscar-Nominierungen.
"Emilia Pérez" verlor letztlich, aber die Gefahr eines Sieges war real. Ironisch: Womöglich bewahrten nur die vor der Stimmabgabe aufgetauchten rassistischen Tweets von Karla Sofía Gascón die Academy vor einer wohl historischen Fehlentscheidung
Die als Hauptdarstellerin nominierte Karla Sofía Gascón saß trotz gegenteiliger Ankündigung beim Oscar-Abend als Erinnerung an ihre Kontroverse im Publikum. Host Conan O’Brien verzichtete auf einen schärferen Roast, der sich angeboten hätte. "Emilia Pérez" und sein Verruf geratener Star erhielten nicht mehr Aufmerksamkeit als notwendig. Im mexikanischen Fernsehen wurde die Niederlage gefeiert.
Immerhin Blockbuster-Packesel Zoë Saldaña ("Avatar", "Guardians of the Galaxy") erhielt dank "Emilia Pérez" den Lohn für jahrelange mühsame Auftritte vor irgendwelchen Greenscreens und in bunten (CGI-)Masken. Sie gewann die Kategorie Beste Nebendarstellerin und bescherte "Emilia Pérez" damit den einzigen bedeutenden Preis. In ihrer emotionalen Dankesrede ging sie auf einige der Kritikpunkte ein, zeigte aber größtenteils Unverständnis.
Und beim Küren des Besten Films zeigte die Academy dann ohnehin, wozu dieser Preis in der Lage sein kann. Sean Bakers Sexworker:innen-Drama "Anora" räumte verdient in allen wichtigsten Kategorien ab. Und das ist wirklich eine Sensation. Selten wurde ein Oscar-Gewinner mit weniger Budget (6 Millionen US-Dollar) produziert, noch nie spielte ein Oscar-Gewinner weniger ein.
Der Regisseur bildet mit seinen kleinen Filmen ("Tangerine L.A.") seit Jahren marginalisierte Lebensrealitäten ab, was bislang aber nur in einer Cineasten-Bubble wahrgenommen wurde. Die Oscars bieten "Anora" und Sean Bakers Werk eine überfällige Rampe in den Mainstream.
Ein Triumph von "Emilia Pérez" hätte der Autorität der Oscars als Qualitätsmaßstab schwer geschadet. "Anora" erreicht das Gegenteil. Von diesem wirklich fantastischen Film hätten die Menschen, die nun in der "Tagesschau" einen Oscar-Beitrag schauen, wohl nie gehört.