Um 0.52 Uhr ist das Schicksal von "Lord of the Lost" endgültig besiegelt. Die Hamburger Metal-Band, die nach diversen deutschen Pleiten beim Eurovision Song Contest als moderater Hoffnungsträger ins Rennen gegangen war, belegte unverrückbar den letzten Platz beim Eurovision Song Contest in Liverpool.
Immerhin nicht mit Null Punkten. Und sogar mit dreimal mehr Zählern als Rapper Malik Harris 2022 geholt hat: 18 Punkte sammeln Lord of the Lost auf dem 26. Platz.
Von den 37 Länder-Jurys bekamen sie drei Punkte: erst zwei aus Island, dann einen aus Tschechien. 15 gab es dann zusammen von den Zuschauern der anderen Länder. Ein mehr als enttäuschendes Erlebnis. "Richtig Letzter zu sein, ist crazy", sagt Max Mutzke im Talk nach der Sendung etwas fassungslos, weil er die Band deutlich weiter oben erwartet hätte. Mutzke hatte 2004 Platz 8 für Deutschland belegt.
Und Barbara Schöneberger hält zu später Stunde auch nichts mehr von Zurückhaltung als Moderatorin: "Hinter den Unterhosen aus Kroatien und der schreienden Frau aus Spanien", urteilt sie über die Platzierung.
Sie meinte die Punks aus Kroatien (Platz 13), zu denen später mehr, und Blanca Paloma, die sehr klagend und vom Klatschen ihrer Backgroundtänzer begleitet sang und damit auf Platz 17 landete. Schöneberger spricht frei von der Leber weg. Macht eine kurze Denkpause und setzt nach: "Ich mag die, aber ich fand es schrecklich."
Dabei begann der Abend so gut. Moderatorin und Rapperin Alesha Dixon, Schauspielerin Hannah Waddingham (Game of Thrones) und die ukrainische Sängerin Julija Sanina führen in der St. George Halle an den alten Docks durch die Show, später kommt auch BBC-Urgestein Graham Norton dazu.
Letztes Jahr gewonnen hatte zwei Monate nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine das Kalush Orchestra aus der Ukraine – aber aufgrund des Krieges war schnell klar, dass der ESC nicht dort ausgetragen werden konnte. Deshalb sprang England ein.
Den Anfang bei der Show in Liverpool machen die beiden Österreichrinnen Teya & Salena mit ihrem Elektro-Song mit Kirchenliedeinsprengseln. In "Who the Hell is Edgar?" geht es um den Wert von kreativer Arbeit. Gutes Thema für diesen Abend, aber der etwas schrille Song ist Geschmackssache.
Auf den Mainstream setzte hingegen Loreen, die schwedische ESC-Gewinnerin von 2012, sie liegt auf einer Art überdimensionierten Sonnenbank, Leuchtdeckel und Künstlerin erheben sich im Laufe der Performance. Ihr Song "Tattoo" ist eine glatte Pop-Komposition, die aber nur wie die B-Seite ihres Siegertitels "Euphoria" klingt. Doch bei den Buchmachern war sie eine der Favorit:innen.
Ganz weit oben steht auch der finnische Rapper Käärijä mit seinem knall-grünen Lack-Bolero. Nachdem sein Song als technoider Stampfer anfängt, driftet er gegen Ende in einen heiteren Partysong ab. Die Zuschauer in der Arena in Liverpool skandieren bei den Wertungen immer wieder den Songtitel "Cha Cha Cha". Absoluter Publikumsliebling.
Es gibt viele Songs, die man gleich wieder vergessen hat, aber einige bleiben im Ohr, oder im Auge, wegen der Performance: Die Französin La Zarra steht in Chanonnièrenmaier bei ihre Song "Évidemment" auf einer Art Turm, der anfangs von ihrem langen Kleid komplett verdeckt wird, so dass sie grotesk groß aussieht.
Der junge Schweizer Remo Furrer singt in "Watergun" davon, dass er kein Soldat sein will, das polnische Model Blanka könnte seinen Song "Solo" in jedem x-beliebigen All-Inclusive-Club im Aqua-Gym dudeln lassen, der Serbe Luke Black kämpft dramatisch in der Choreo zu seinem düsteren Song gegen das Böse, das von seinen Tänzern personifiziert wird. Irgendwann zieht er ihnen die Staubsaugerschläuche aus dem Rücken des Science-Fiction-Kostüms.
Aus Albanien kommt Albina und bringt ihre albanische Kelly Family mit. Nur, dass sie Kelmendi Familie heißt und Balkan-Sounds nutzen. Der Italiener Marco Mengoni schmelzt, was das Zeug hält in der Power-Ballade "Due vite" mit Glitzerpullunder auf nackter Haut und Lederhose. Tschechien schickt das Frauen-Sextett "Vesna" ins Rennen, die in rosa und mit langen Flechtzöpfen "My Sister's Crown" performten. Der Belgier Gustaph surft mit seinem Song "Because Of You" durchs Disco-Repertoire der letzten Jahrzehnte. Die junge israelische Tänzerin und Sängerin Noa Kirel performt ihren Selbstbehauptungs-Pop-Song "Unicorn".
Die Stimmung ist insgesamt gelöster als im vergangenen Jah, als der Ukraine-Krieg gerade frisch die Welt erschütterte. Damals hat das ukrainische Kalush Orchestra mit seinem Song "Stefania" wohl auch wegen der prägnanten Flöten-Hookline gewonnen. Dieses Mal landete der Ukrainer Tvorchi ohne Flöte aber dem R'n'B-Song "Heart Of Steel" auf dem sechsten Platz.
Dafür setzte ein alter Bekannter auf die Flöte: Pasha Parfeni aus Moldau ist zum dritten mal beim ESC. Wie so oft bei Balkan-Beiträgen, ist Schrill-Folkloristisches dabei. Seine Tänzerinnen tragen eine Art Halbmond-Haken aus Haaren als Frisur und ein kleiner Mann mit Maske und Federn spielte Flöte bei "Soarele si luna".
Der verrückteste Auftritt kommt aus Kroatien. Die altgediente Punkband Let 3 performt "Mama ŠČ" in bunten Militäruniformen und mit dicken Schnurrbärten. Gegen Ende ziehen sie die Uniformen aus und schlackernde Feinrippunterwäsche kommt zum Vorschein, die Barbara Schöneberger so entsetzt, dass sie sich zu obigen Kommentar hinreißen lässt. Dabei hätte es noch schlimmer kommen können: Kommentator Peter Urban erzählt, dass sich die Punks im TV auch schon ganz ausgezogen haben.
Am Ende liefern sich Schweden, Finnland, Israel und Italien einen Kampf um die Spitze. Zwar kann die Norwegerin Alessandra mit ihrem Song "Queen of Kings" mit der Publikumswertung noch in die Spitzengruppe aufschließen, aber der Vorsprung ist doch zu hoch.
Am Ende ist auch klar, dass es für Italien und Israel nicht reicht. Ihre XXXL-Nägel vors Gesicht haltend erwartet die Schwedin Loreen die letzte Zuschauerwertung und geht final in Führung vor dem Finnen-Rapper. Ungläubig freut sie sich über ihren zweiten ESC-Gewinn.
Für den Kommentator Peter Urban war es nach mehr als 25 Jahren sein letzter Einsatz beim ESC. "Ich hatte mir von meinem letzten ESC wirklich mehr erhofft", gibt der Enttäuschungen gewohnte TV-Mann zu. Er wolle sich nur noch bedanken bei den Teams und seiner Familie, die oft auf ihn verzichten musste.
Und Lord of the Lost zeigen sich als gute Verlierer. Außerhalb des ESC sind sie eine erfolgreiche Band, waren vor Liverpool auf Tour in Südamerika. Ihr nächstes Konzert ist am 27. Mai. Sie hätten "das Fundament" für einen deutschen ESC-Neustart gegeben, sagt Bassist Class Greynade in der ARD nach dem Auftritt. "Auch wenn man das jetzt nicht sieht und denkt, alles ist scheiße." Sie würden nun weiterziehen und andere Künstler im kommenden Jahr auf diesem Fundament aufbauen in der Erneuerung des deutschen ESC.
Es bleibt aber auch die Frage, wie es sonst weitergeht. Als Kommentator-Nachfolger hatten sich schon Jan Böhmermann und sein Podcast-Kumpel Olli Schulz in Stellung gebracht und für den ORF kommentiert. Allerdings sind die Reaktionen, selbst von Fans, eher kritisch. Und zwar aus einem ganz bestimmten Grund: Sie quatschen während der Songs.
Das klingt nicht nach einem Empfehlungsschreiben, die Nachfolge für Peter Urban anzutreten. Aber der ausrichtende NDR wird sich aufgrund des wiederholt katastrophalen Abschneidens wohl sowieso viele Gedanken über die Zukunft des deutschen ESC machen müssen. (Ark)