Als Moderator Markus Lanz Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck fragt, was er für die kommende Nacht im Ukraine-Krieg erwarte, hadert er mit den Worten. Autorin Kateryna Mishchenko erzählt aus Kiew, dass die Menschen in der Ukraine am Donnerstag wieder an den zweiten Weltkrieg gedacht haben. Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum stellt die Frage aller Fragen: Wer kann Putin noch stoppen?
Diese Gäste sprechen bei Markus Lanz über die russische Invasion:
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck wusste bereits am Mittwochabend, dass der russische Präsident Wladimir Putin die gesamte Ukraine angreifen wird. Von einer amerikanischen Kontaktperson habe er zuvor einen Brief erhalten. Als er diesen las, war ihm klar, dass der Plan ausgereift sei, dass "Demokratie keine Chance mehr hat." Die Journalistin Alice Bota geht davon aus, dass der gesamte Plan der Invasion bereits feststand, als Kanzler Olaf Scholz neben Putin eine Pressekonferenz hielt.
Putin würde die Realität komplett verdrehen, um die Opfer als Täter darzustellen, so CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen. "Der Angriff auf die Ukraine ist rational nicht zu erklären", ergänzt Habeck. Doch genau diese Irrationalität mache die Invasion so gefährlich, sie war kaltblütig geplant und schade Russland selbst. Röttgen widerspricht: Die nationalistische Historie Putins zeige, dass der Angriff nicht komplett irrational sei.
Laut dem heutigen Stand wird die Regierung keine Defensivwaffen an die Ukraine liefern, bekräftigt Habeck. Doch für die Zukunft schließt er es auf Nachfrage von Lanz explizit nicht aus. Eine Konsequenz der Invasion sei ebenso, dass die Qualität der Bundeswehr geprüft und "das ist kein Geheimnis – gesteigert werden muss". Auch er äußert Zweifel, dass die Bundeswehr schnell komplett einsatzfähig sein könne. Als Journalistin Eva Quadbeck den Heeresinspekteur der Bundeswehr zitiert, der sagt, dass man nicht genug Waffen habe, lächelt Habeck nur müde, wie Lanz betont.
Röttgen war lange gegen Waffenlieferungen – heute habe er seine Meinung geändert. Seine Begründung: "Heute ist der Gesprächskanal zerschossen." Die Frage der Waffenlieferungen in Kriegsgebiete müsse in Deutschland unbedingt ausdiskutiert werden, fordert der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum.
Doch Deutschland habe im Verhältnis mit Russland eine gewisse "Scheuklappenmentalität", sagt Journalistin Eva Quadbeck. Einerseits habe Deutschland gesehen, wie Russland die Krim annektiert hat, Menschen gestorben sind, andererseits hat es Verträge zu Nord Stream 2 unterschrieben. "Ja, das war ein Fehler", kritisiert Habeck Kanzler Scholz, der noch vor Wochen dafür plädiert hatte, Nord Stream 2 privatwirtschaftlich zu bewerten. Diesen Fehler habe er aber eingeräumt.
Habeck bekräftigt das Offensichtliche: Man müsse in der Energiepolitik unabhängiger von Russland werden. Vorrübergehend sei Nord Stream 2 nicht genehmigungsfähig. Auch das werde Putin zunächst nicht schaden – langfristig aber schon. Dem russischen Präsident hätte klar sein sollen, dass bei dieser Invasion "nicht nur Nadelstiche kommen werden, sondern zugeschlagen wird", so Habeck. Doch sei auch klar, dass die angekündigten Sanktionen Putin nicht dazu bringen werden, die Panzer umzukehren. Habeck bemüht sich, zuversichtlich zu sein: "Doch das kann die Tür der Diplomatie wieder öffnen – wenn auch nicht in den nächsten Stunden."
Röttgen lenkt das Gespräch um: Dass die Bundeswehr nicht direkt einsatzfähig und Nord Stream 2 umstritten ist, sei nicht erst seit heute klar. Doch er habe heute nicht den Finger erhoben, um deutsche Fehler zu unterstreichen. "Wir sollten uns heute nicht kritisieren, sondern Stärke zeigen", fordert er. Man habe jetzt das Glück, dass man mit einer pro-europäischen amerikanischen Regierung zusammenarbeiten kann, doch man dürfe sich nicht auf deren Verteidigung verlassen.
Als Lanz Habeck fragt, was er für die nächsten Stunden erwarte, hadert der Vizekanzler mit den Worten. "Was ich für heute Nacht erwarte, kann ich nicht sagen." Autorin Kateryna Mishchenko aus Kiew rechnet mit der zweiten Welle des Angriffs. Viele Menschen hätten die Ukraine bereits verlassen. Sie sei selbst von Sirenen geweckt worden, habe Vorräte eingekauft. "Heute haben viele wieder an den Zweiten Weltkrieg gedacht", sagt sie. Kurz danach ist die Verbindung nach Kiew weg.
Auch Baum habe bei den Bildern von Schlangen vor Tankstellen und Bankautomaten an vergangene Kriegsszenarien gedacht. "Es wird schlimmer werden", sagt er voraus. Deutschland müsse offen für Kriegsflüchtlinge sein, appelliert er. Laut dem Völkerrecht und der Nachkriegsordnung könne die Ukraine Putin vor dem Internationalen Strafgerichtshof als Kriegsverbrecher anklagen. "Es muss ein Sicherheitsbeschluss gegen den Aggressor Putin gefasst werden", fordert er.
Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, erhebt heftige Vorwürfe gegen die Regierung: "Ich habe schon viele Jahre nicht mehr geweint. Aber heute war dieser Tag." Doch hauptsächlich habe er wegen der Gleichgültigkeit aus der deutschen Regierung geweint, so Melnyk. Sie bleibe stur und verweigere der Ukraine Hilfe, die schon seit Wochen angefordert wird, unter anderem Waffen, Schutzausrüstung und Funkgeräte.
"Diese Schilderung macht betroffen", sagt Quadbeck und gibt Melnyk Recht. Das Problem der deutschen Regierung sei, nicht aus der Komfortzone herauszukommen: So war Kanzler Scholz auch zurückhaltend, Russland aus dem internationalen Swift-Finanzmarkt zu verbannen und blockierte die EU-Entscheidung. "Das Swift-Abkommen ist das schärfste Schwert der Sanktionen, die wir hätten beschließen sollen", so Quadbeck. Wenn nicht heute, wann dann, fragt sich auch Bota. Es sei falsch, dass Deutschland diesen Ausschluss blockiert hat, so Röttgen, Melnyk gibt ihm Recht. Vizekanzler Habeck ist schon aus der Sendung ausgestiegen, ehe er diese Kritik kommentieren konnte.
In Russland gehen vereinzelt Gruppen auf die Straßen, um gegen den Krieg zu protestieren. Die Krim-Annexion habe in der russischen Bevölkerung für Euphorie gesorgt, dieser Krieg tue es nicht, berichtet Journalisitin Bota. Doch auf größere Demonstrationen könne man sich angesichts der repressiven Sicherheitspolitik nicht einstellen. "Die Leute wägen, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren, dass sie festgenommen und verurteilt werden", so Bota. Seine Repressionen und Macht habe Putin bereits im eigenen Sicherheitsrat demonstriert als er seine Gefolgschaft vor laufender Kamera gezwungen hatte, sich zu seinen Ukraine-Plänen zu bekennen.
Putins Angriff habe sicher etwas mit dem Abgang von Altkanzlerin Angela Merkel zu tun, die immer eine diplomatische Politik zu Moskau pflegte, vermutet Quadbeck. Auch habe er die Gelegenheit genutzt, dass die USA von einem nach Afghanistan geschwächten Joe Biden geführt wird – und nicht mehr von Donald Trump.
Bei Trump hätte Putin noch die Angst gehabt, dass er direkt militärisch – sogar mit Atombomben – auf eine Invasion reagiert hätte, resümiert Quadbeck. Putin werde aufs Ganze gehen, prophezeit Baum. Er fragt sich zum Ende der Sendung, was sich derzeit wohl alle fragen: "Wer stoppt diesen Mann?" Das könne nur die Nato ernsthaft tun, sagt Quadbeck. "Und dann ist die ganze Welt betroffen."
Röttgen stoppt die Debatte: "So können wir das doch heute nicht beenden." Putin habe keine breite Unterstützung für diesen Krieg in einem wirtschaftlich schwachen Land. "Wir haben Möglichkeiten, das Herrschafts- und Wirtschaftssystem zu treffen." Deutschland müsse dazu lernen, dass es auch um uns gehe. "Wir müssen die Frage klären: Wie viel ist uns der Frieden wert?"