Bilanz ziehen und einen Blick in die Zukunft werfen, benennt Markus Lanz das Thema seiner Talkshow-Runde zu Beginn der Sendung am Dienstagabend. Ganz ungewohnt: Kein Politiker ist vertreten und die Gäste – ein Soziologe, eine Unternehmerin, eine Biophysikerin und eine Autorin – sind größtenteils einer Meinung. Die Bildungspolitik war der wunde Punkt der Corona-Pandemie, und politische Entscheidungsträger haben sich bei Fragen zu Kindern und Jugendlichen, Schulen und Digitalisierung viel zu oft aus der Verantwortung gezogen, sagen die Gäste und bemängeln die soziale Bildungsungleichheit und Versäumnisse in der Technologie.
Über Bildung, Digitalisierung und Chancenungleichheit, diskutiert Markus Lanz mit folgenden Gästen:
Als Moderator Lanz konkret wissen will, was schlecht lief in der Pandemie, muss Soziologe Harald Welzer erstmal tief durchschnaufen bevor er antwortet: "Die Abwesenheit einer Bildungspolitik." Die Folgen seien fatal: 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen würden die Phase der Pandemie bewältigen, der Rest würde sich aus der Normalgesellschaft verabschieden, resümiert Welzer aus soziologischen Studien.
Dieser Teil sei empfänglich für Populismus und ablehnend gegenüber einem System, das sie als benachteiligend empfinden, befürchtet Welzer. "Die Problematik mit Kindern und Jugendlichen ist katastrophal", urteilt er. Und kritisiert weiter:
Deutschland bezeichne sich als Wissensgesellschaft, obwohl Menschen systematisch keine Chance haben, in dieses System zu gelangen, so Welzer. Verena Pausder, Vorsitzende des Vereins "Digitale Bildung für alle" stimmt dem Soziologen zu und betont, dass zwei Millionen benachteiligte Kinder im ersten Lockdown keine Bildung erreicht hat. "Jetzt kann man sagen, letzten März bis Juni war das alles noch neu. Aber spätestens seit letztem Sommer wussten wir, dass das nächste Schuljahr genauso wird und wir haben nichts gemacht", sagt Pausder.
Was ist so schiefgelaufen, will Lanz von der Journalistin und Autorin Julia Friedrichs wissen: "Die Gleichgültigkeit, mit der man Familien sich selbst überlassen hat, wie man sie vor Aufgaben gestellt hat, die nicht lösbar waren."
Soziologe Welzer bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Prinzip einer "organisierten Unverantwortlichkeit" in der Politik, die unter Krisenbedingungen katastrophal sei. Stattdessen hätten sich Schulleitungen eigenverantwortlich Gedanken über pragmatische Lösungen gemacht, nur um dann vom Ministerium oder vom Landesdatenschutzbeauftragten ausgebremst zu werden. "Mut wird nicht belohnt", wirft Pausder ein.
Biophysikerin Susanne Schreiber ist Mitglied im Deutschen Ethikrat und sieht diese Unverantwortlichkeit ebenso in der Debatte um die Impfungen von Kindern. Auch hier liege die Verantwortung, ob ein Kind gegen das Coronavirus geimpft werden soll, nun bei den Eltern, da die Ständige Impfkommission sich bislang zurückhaltend gezeigt hatte und die Impfung lediglich für 12- bis 17-jährige Kinder mit bestimmten Vorerkrankungen empfiehlt.
Doch was war gut an Corona, will Lanz von Friedrichs wissen. "Fahrradwege", scherzt die Autorin und ergänzt dann, dass sie zumindest zu Beginn das Gefühl hatte, Teil eines gemeinsamen Projekts zu sein, dass sich zum Ziel gesetzt hatte, jedes Leben, wenn möglich, zu bewahren. Nun müsse das gemeinsame Projekt den Fokus auf Kinder und Jugendliche legen. "Wir haben uns so daran gewöhnt, dass Kinder am meisten benachteiligt werden", sagt Friedrichs.
In der Pandemie habe sich soziale Ungleichheit noch weiter verstärkt, erklärt sie in der Talkrunde. "Die Starken kehren relativ schnell an ihren Platz zurück und die anderen müssen sich zusammensammeln und schauen, wie sie mit den Narben umgehen", so Friedrichs.
"Finanzminister, Gesundheitsminister, Ministerpräsidenten waren ständig medial präsent, aber Kultusminister und Bildungsminister?", fragt sich Unternehmerin Pausder. Die Wertschätzung für Lehrer und Eltern habe komplett gefehlt. Auch hierbei ist sich die Runde bei Lanz einig: Ein großes Problem stellt die fehlende Bildungsdigitalisierung dar.
Die Hilfestellung technischer Mittel habe gefehlt, dadurch sei Vertrauen verloren gegangen, sagt Pausder. Zudem seien verwendete Videoplattformen wie Microsoft Teams, Zoom oder Google Classroom ausschließlich amerikanische Softwares.
GAIA-X, das Projekt zum Aufbau einer europäischen Dateninfrastruktur, sei nicht mal ein Teil des kürzlich veröffentlichten Wahlprogramms der CDU/CSU, betont Pausder, obwohl Wirtschaftsminister Peter Altmaier es schon vor Jahren angepriesen hätte.
In Spuren komme die Digitalisierung im CDU-Wahlprogramm zwar vor, ergänzt Soziologe Welzer, doch immer nur mit den Floskeln "Wir wollen, wir sollen, wir müssen" – ohne konkrete Operationalisierung. "Es ist doch abgedreht, dass das im Wahlprogramm einer Partei, die die Regierung beansprucht, nicht vorkommt", so Welzer.
"Wir haben eine fast schon historische Chance, Bildung völlig neu zu denken", sagt Pausder mit Blick auf die Zukunft. Es müsse nicht das ganze Schulsystem digitalisiert werden, vielmehr gehe es um digitale Gestaltung und Medienmündigkeit sowie Recherchefähigkeit. Zudem bringt die Unternehmerin sogenannte "Freidays" in die Diskussion – Tage, an denen Schüler nicht nach striktem Lehrplan, sondern jahrgangs- und fächerübergreifend unterrichtet werden. Schreiber dagegen lobt sogar das Konzept des Wechselunterrichts und hybriden Lernstrukturen, die vielen Jugendlichen das Lernen nach eigenem Tempo und Erfolgen ermöglichen.
Kinder aus sozial schwachen Familien brauchen aber verlässliche Strukturen, widerspricht Friedrichs. Ihr Buch "Working Class – Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können" handelt von Chancenungleichheit und arbeitspolitischen Herausforderungen. Sozialer Aufstieg sei in den 80er Jahren viel besser geglückt als heute, so Friedrichs. In den unteren Schichten seien Löhne in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten kaum gestiegen, die Kaufkraft zum Teil gesunken und viele Bereiche wurden outgesourct.
Eine Erfolgsgeschichte nach amerikanischem Vorbild – vom Tellerwäscher zum Millionär – sei in Deutschland derzeit kaum mehr möglich. Die Einführung des Mindestlohns habe zwar Verbesserungen ermöglicht, doch er sei noch immer zu niedrig, kritisiert Friedrichs: