
Linkin Park reloaded: Emily Armstrong ist die neue Sängerin der Band um Mike Shinoda.Bild: dpa / Fabian Sommer
Vor Ort
Die Kult-Band Linkin Park feiert derzeit ein emotionales Comeback – in neuer Besetzung mit Frontfrau Emily Armstrong. Trotz großem Druck und starker Kritik im Vorfeld gab Berlin der Band viel Liebe. Watson war vor Ort.
19.06.2025, 07:5419.06.2025, 07:54
"I always wanted to be part of something. I always wanted to be part of something."
Kurz bevor Linkin Park die Bühne betreten, schleicht die Stimme von Sänger Mike Shinoda durch die Weiten des Olympiastadions. Auf den kurzen Ausschnitt des Hits "The Emptiness Machine" folgt ein Geräuschpegel im Publikum, der dem Begriff "ohrenbetäubend" eine neue Definition verleiht.
"Woooos" pfeifen einem wie Wind um die Ohren, der Innenraum verwandelt sich in ein Meer aus wippenden Armen. Der erste Song, "Somewhere I Belong", ist ein Klassiker der Band. Laute, aber melodische Gitarren, scratchende DJ-Sounds, Rap in den Strophen, kraftvoller Gesang im Refrain, ein schmerzvoller Song über Einsamkeit und die Suche nach Geborgenheit: Er enthält alle Bausteine eines typischen Linkin-Park-Songs.
Ich hetze einige Minuten zuvor die Treppen des Olympiastadions hoch und schaffe es gerade noch rechtzeitig, um diese Szenen mitzubekommen. Gänsehaut, angespannte Tränendrüsen, meine Mundwinkel wandern wie fremdesteuert nach oben. "Was geht, Berlin?", fragt Mike Shinoda. Hach, Mike, wo soll ich nur anfangen?
Triggerwarnung: Im folgenden Text geht es aufgrund der Bandgeschichte auch um das Thema Suizid.
Linkin Park in Berlin: Mittelmäßiges Album, doch was passiert live?
Als Linkin Park Anfang September 2024 ihr Comeback im Rahmen eines Konzerts mit der neuen Frontsängerin ankündigten, spürten viele der so zahlreichen Fans plötzlich einen Kloß im Hals. Linkin Park war wirklich zurück: Ein neues Album samt Tour versprachen Mike Shinoda und Konsorten damals.
Ein Jahr später resümiere ich: Das neue Album ist Mittelmaß. Doch ehrlich gesagt kümmert mich das kaum. Ich habe mich sowieso nicht nach einem neuen Linkin Park gesehnt, sondern nach dem alten – mit einem Ersatz für Chester Bennington.
Dass seine Nachfolgerin Emily Armstrong diesem illusorischen Wunsch auch nur halbwegs gerecht werden kann, rechne ich ihr hoch an.
Dabei läuft sie an diesem warmen Mittwochabend im Juni noch nicht einmal zu Hochform auf. Sie spart an den für ihren Vorgänger so bezeichnenden Screams – Metalheads, bitte seht es mir nach: ihrem Geschrei. Zudem wandert ihr Blick oft in die Ferne und ein Lächeln kommt ihr selten über die Lippen. Armstrong wirkt angespannt.
Dennoch gibt sie alles, fuchtelt mit den Armen, springt herum, ballt die Siegerfaust, pusht das Publikum: "Berlin you got this!" Vor allem aber behandelt sie das Werk ihres Vorgängers chirurgisch genau mit Respekt.
Bei vielen Songs, die sie für Ex-Frontmann Chester covert, überlässt sie bei ganzen vielen Passagen dem Publikum das Mikro. Bei "Crawling", einem der ersten Songs, singt die erste Strophe fast ausschließlich die Menge.
In manchen Momenten will das Publikum bei diesem Job zwar nicht ganz mitmachen, doch in den besseren Momenten, wie bei "What I've done", hat es was Gemeinschaftliches: Jetzt, da Chester nicht mehr ist, tragen wir alle zusammen die Verantwortung für sein Werk.
Chester Benningtons Tod trifft Millionen Fans
"I'm a tightrope, held up by a clothespin" rappt Shinoda während des Songs "Cut the Bridge" vom neuen Album. Ein Drahtseil, das einzig an einer Wäscheklammer hängt. Es mag schräg klingen, aber jahrelang waren auch Linkin Park mit ihren zärtlich-brutalen Songs diese Wäscheklammer für viele der Fans, die in ihnen Halt fanden.
Umso härter traf Millionen von Menschen die Nachricht am 20. Juli 2017: Chester Bennington, der so beliebte Frontsänger mit der einzigartigen Stimme, ist gestorben. Er nahm sich das Leben.
Fühlst du dich verzweifelt?
Telefonseelsorge: Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichst du rund um die Uhr Mitarbeiter:innen, mit denen du sprechen kannst. Auch ein Gespräch via Chat oder E-Mail ist möglich.
Kinder- und Jugendtelefon: Der Verein "Nummer gegen Kummer" kümmert sich vor allem um Kinder und Jugendliche. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter der Rufnummer 116 111.
Krisenchat: Bei Krisenchat kannst du dich per Whatsapp rund um die Uhr an ehrenamtliche Berater:innen wenden. Das Angebot richtet sich an Menschen bis 25 Jahre.
Sieben Jahre lang ließen Mike Shinoda und Co. sich selbst und auch Millionen von Fans Zeit, um dieses schmerzhafte Ereignis zu verdauen.
Dennoch werde ich gegen Ende des Konzerts nachdenklich: Es gibt an diesem Abend kein Wort zu Bennington. Auch keinen Einspieler seiner Stimme, kein Foto, das auf den Bildschirmen gezeigt wird.
Doch der ehemalige Frontsänger ist beim Auftritt sowieso omnipräsent. In seinen Lyrics für Linkin Park verarbeitete Chester Bennington sein Leben, seine Emotionen, seine Dämonen.
Keiner der älteren Songs wird somit gespielt, ohne dabei an den so sehr vermissten Sänger und den dramatischen Kontext des Band-Comebacks zu erinnern.
Linkin Park: Mike Shinoda mit neuer Rolle
Bei aller Emotionalität fragten sich vor der Comeback-Tour aber auch viele, wie sehr es Linkin Park verkraften können, wenn sie gleichzeitig auf ihr Herz, ihr lyrisches Hirn, ihre Pferdelunge und ihr Schreiorgan verzichten müssen.
Doch die Band wirkt in Berlin mehr als intakt. Berühmt wurden Linkin Park für ihre unnachahmliche Kombination von Rock, Rap und Elektro-Sounds. Das funktionierte damals wie heute musikalisch makellos und verleiht Linkin Park einen ganz eigenen Sound.
Es ging darüber hinaus auch um das Zusammenführen von Subkulturen. Linkin Parks Stil gipfelte in einem Song, auf den sich eine ganze Generation einigen konnte. 2003 veröffentlichten sie "Numb".
Der Geist dessen ist auch heute noch auf Linkin-Park-Konzerten zu spüren: Armstrong singt und schreit ihren Schmerz heraus, Shinoda spittet ein paar nachdenkliche Lines, DJ Joe Hahn scratcht die Schallplatten, in der Crowd werden Arme gewippt und Tränen verdrückt.
Eine neue Rolle nimmt dabei Shinoda ein. Er rappt unnachgiebig, spielt Keyboard, Gitarre, heizt der Menge im einen Moment ein und ist mit seinem aufgeweckten Teddy-Bär-Lächeln der Publikumsliebling. Vor allem aber singt er bei den neuen Liedern deutlich mehr als früher.
Linkin Park machen es mir schwer
Als wäre es nicht schon emotional genug, wurde das ganze Comeback um eine weitere Facette reicher, als kurz nach der Verkündung der neuen Frontfrau Kritik an ihr aufkam – auch aus der Anhängerschaft. 2013 wurde Armstrong bei einem Event der Sekte Scientology fotografiert.
Jahre später solidarisierte sie sich mit einem dessen Mitglieder, dem Schauspieler Danny Masterson, als er wegen Vergewaltigung angeklagt war. Armstrong distanzierte sich nach dem Aufkommen der Vorwürfe vom mittlerweile verurteilten Vergewaltiger, sie habe ihn "falsch eingeschätzt".

Beten gegen den Shitstorm: Armstrongs Verbindung zu Scientology sorgte für Kritik.Bild: dpa / Fabian Sommer
Teile der Linkin-Park-Community tobten dennoch, die Band ignorierte das Skandälchen aber weg. Auch ich habe mich damals deswegen gegen den privaten Kauf eines Tickets entschieden. "Man muss Künstler und Werk trennen", erklärt mir andererseits eine Konzertbesucherin dazu ihre Meinung.
Ein Konzert wie ein Pflaster für gebrochene Fan-Herzen
Ich ertappe mich während all meiner Lieblings-Songs wie "In the End", "Papercut" oder "One Step Closer" dann doch dabei, wie schnell ich Armstrong verzeihe. Vor allem, als sie bei letztgenanntem Song das Stadion zum Beben bringt und alle gemeinsam "Shut up when I'm talking to you. SHUT UP!" brüllen.
Und das tue ich nicht etwa wegen ihrer Leistung. Am Ende des Konzerts bin ich von ihr sogar ein wenig enttäuscht. Armstrong ist nun einmal nicht Chester Bennington (ich weiß, der Vergleich ist unfair, doch sie selbst bittet im neuen Song "Heavy Is the Crown" ja quasi darum).
Dennoch versuche ich, ihr all die Worte und Emotionen zu glauben, die früher Bennington und heute sie in unsere Richtung schreit: Liebe, Wut, Zweifel, Fehler, Zerstörung, Versöhnung.
Ich will ihr das abnehmen – auch, um meinen eigenen Seelenfrieden als Fan dieser so einzigartigen Band zu finden. Was war, kann nicht mehr ungeschehen werden. Was bleibt, ist, auch das ist typisch für Linkin Park, ein kleines, aber dafür grelles Pflaster auf mein gebrochenes Fan-Herz.