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Präsident der sächsischen Landesärztekammer sagt Triage an Kliniken voraus

Die Intensivstationen sind überfüllt, die Betten knapp. Experten rechnen damit, dass bereits Ende dieser Woche Triage-Entscheidungen gefällt werden müssen.
Die Intensivstationen sind überfüllt, die Betten knapp. Experten rechnen damit, dass bereits Ende dieser Woche Triage-Entscheidungen gefällt werden müssen. Bild: www.picturedesk.com / BARBARA GINDL
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"Triage-Entscheidungen sind im Grunde schon getroffen worden" – Präsident von Sachsens Ärztekammer über die Situation in Kliniken

25.11.2021, 09:4925.11.2021, 18:55
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Seit Anfang November schon verschieben Kliniken in ganz Deutschland elektive – also nicht notfallmäßige – Operationen, um die Belastung durch an Covid-19-Erkrankten unter Kontrolle zu bekommen. Doch das könnte schon bald nicht mehr ausreichen. In den letzten Tagen werden Stimmen lauter, die Triage-Entscheidungen unausweichlich auf Kliniken zukommen sehen. Im Corona-Hotspot Sachsen gilt ab 22. November die neue Notverordnung, die auch einen Teil-Lockdown für die Bevölkerung umfasst. Die Krankenhäuser in Sachsen, dem Bundesland mit der niedrigsten Impfquote, sind vollkommen ausgelastet. Watson hat mit Experten gesprochen, was die überfüllten Intensivstationen für die Behandlung von Patienten bedeuten und wie eine Triage-Entscheidung getroffen wird.

Aufgrund der akuten Lage stünde eine Triage in Sachsen kurz bevor, sagt der Präsident der Landesärztekammer Sachsen Erik Bodendieck: "Wir erwarten, dass am Ende der Woche einzelne Kliniken vor dieser Entscheidung stehen. Die Entscheidung, welcher Patient welche Therapie bekommt, treffen die behandelnden Ärzte vor Ort. Kriterien für die Entscheidung sind Indikation und Behandlungserfolg und gegebenenfalls eine vorhandene Patientenverfügung."

Hoffnung für Betroffene gäbe es allerdings noch, denn Ausweichmöglichkeiten auf andere Kliniken oder sogar ins Ausland könnten lebensentscheidende Alternativen sein. "Zunächst kann eine Verlegung in andere Bundesländer erfolgen. Eine Verlegung ins Ausland wäre eher eine letzte Option", ergänzt Bodendieck. Am Dienstagabend aktivierten einzelne Bundesländer wie Bayern (Kleeblatt Süd) sowie die Länder Thüringen, Sachsen, Berlin und Brandenburg (Kleeblatt Ost) bereits das überregionale Kleeblatt-Konzept zur strategischen, bundesweiten Verlegung von Intensivpatienten.

Für die strategische Patientenverlegung wurde Deutschland in fünf Kleeblatt-Regionen eingeteilt.
Für die strategische Patientenverlegung wurde Deutschland in fünf Kleeblatt-Regionen eingeteilt.uksh

Denn ohne Probleme würde eine Verlegung ins Ausland nicht funktionieren. Sachsen stünde nur als erstes Bundesland vor dieser Situation, das einzige werde es nicht bleiben, so die Prognose von Erik Bodendieck: "Allerdings müssen wir feststellen, dass auch in den Ausweichkliniken bereits die Kapazitäten an der Grenze sind. Derzeit bewegen sich zwei Drittel der Bundesrepublik auf eine solche Situation allein anhand der Indikationszahlen zu. Wie soll der Rest die Übernahme gestalten?", so der Präsident der Landesärztekammer gegenüber watson.

Latente Triage findet bereits statt

Unter dem Hashtag #Gib_der_Pandemie_ein_Gesicht teilen Menschen aktuell bei Twitter ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem während der letzten zwei Jahre. Darunter sind auch viele mit chronischen Erkrankungen oder Krebsdiagnosen. Sie befürchten aufgrund der angespannten Situation keinen Behandlungsplatz zu bekommen, wenn es notwendig wird.

Der Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Stefan Kluge, sprach gegenüber des Deutschen Ärzteblatts von einer "latenten Triage", die in Kliniken bereits praktiziert würde. "Und dabei geht es nicht um Hüftoperationen, sondern zum Beispiel um dringen­de Gefäßoperationen, bei denen ein Aneurysma platzen könnte." Zudem könne ein Krankenhaus dringende Notfälle wie Schlaganfallpatienten oder Patienten mit einer akuten Leukämie nicht mehr aufnehmen, weil schlichtweg Betten fehlten. Das bestätigt auch Erik Bodendieck.

"Triage-Entscheidungen sind im Grunde schon getroffen worden, als es um die Verschiebung von Behandlungen ging. Wir haben nun deutliche Hinweise, dass die im letzten und auch in diesem Jahr stattgefundenen 'Kapazitätsfreihaltungen' oder auch die Angst vor einer Infektion in Praxen und Kliniken und dadurch nicht stattgefundene Behandlungen zu schlechteren Verläufen beispielsweise bei Tumorerkrankungen oder auch Schlaganfällen geführt haben."
Erik Bodendieck gegenüber watson

Bodendieck stellt fest: "Triage im Sinne einer Konkurrenz um ein Bett konnte bis heute grundsätzlich durch Verlegung vermieden werden."

Dr. Wolfram Henn ist Professor für Humangenetik und Mitglied des des Deutschen Ethikrats. Er betrachtet die aktuelle Situation in den Kliniken mit wachsender Sorge: "Real ist das Problem noch größer, weil oft auch schon Zurückhaltung von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten besteht, Patientinnen und Patienten, die nicht dringlich behandlungsbedürftig sind, überhaupt in Krankenhäuser einzuweisen." Auch gefährdet seien "Menschen, die sich schlicht selbst nicht trauen, mit ihren Beschwerden in der gegenwärtigen bedrängten Lage zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen", so der Ethiker gegenüber watson.

"Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass jeder Einzelfall objektiv betrachtet wird und nicht-medizinische Gründe wie etwa der Versichertenstatus keine Rolle spielen dürfen."
Humangenetiker Prof. Dr. Wolfram Henn gegenüber watson

Aktuell sind laut Daten des Robert-Koch-Instituts knapp 70 Prozent der Coronapatienten- und patientinnen auf Intensivstationen nicht geimpft. "Je größer der Druck auf die Behandlungsplätze durch die größtenteils ungeimpften Menschen mit Covid-19 wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass nicht allen Bedürfnissen Genüge getan werden kann. Dies ist eine äußerst bedrückende Lage, die das ärztliche und auch das pflegerische Gewissen massiv belastet", sagt Henn gegenüber watson. "Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass jeder Einzelfall objektiv betrachtet wird und nicht-medizinische Gründe wie etwa der Versichertenstatus keine Rolle spielen dürfen."

Triage-Entscheidungen würden zweifelsfrei auf Basis objektiv-medizinischer Kennzeichen getroffen. "Wenn zwei Menschen behandlungsbedürftig sind, aber nicht für beide genügend geeignete Behandlungsmöglichkeiten vorhanden sind, muss der behandelnde Arzt oder Ärztin nach rein medizinischen Kriterien entscheiden, wessen Behandlung dringender ist und welche notfalls verschoben werden oder in einer anderen Einrichtung stattfinden kann", erklärt Henn.

Der Impfstatus ist irrelevant für Triage-Entscheidungen

Das oberste Ziel sei es, Triage erst gar nicht notwendig zu machen, sagt Henn weiter: "In der dann doch gegebenen, im Einzelfall unabänderlich vor den Ärztinnen und Ärzten stehenden Situation, ist die medizinische Richtschnur, wie dringlich und wie aussichtsreich die Behandlung für den zu behandelnden Menschen ist." Bei den zugrunde gelegten Kriterien für Triage sei es irrelevant, ob der Patient geimpft sei oder nicht. "Auf gar keinen Fall, und dies möchte ich sehr betonen, darf der Grund der Behandlungsbedürftigkeit in diese Entscheidung einbezogen werden. Dies ist ein Urprinzip der Medizin, und konkret bedeutet das, dass der Impfstatus keine Rolle dafür spielen darf und auch nicht spielt, ob jemand behandelt wird oder nicht."

Henn bekräftigt vor allem, dass die Vermeidung solcher Situationen präventiv erfolgen muss: "Die moralische Verantwortung möglicher Patientinnen und Patienten liegt vielmehr im Vorfeld, nämlich alles Mögliche und Zumutbare dafür zu tun, dass diese Situation erst gar nicht eintritt." Das könne jede und jeder Einzelne vor allem durch die Vakzine erreichen: "Hinsichtlich Covid-19 gibt es darauf eine glasklare Antwort: Impfen zum Schutz des Menschen selbst und zum Schutz anderer Menschen, die wegen Covid-19 oder auch anderer Krankheiten medizinische Behandlung brauchen."

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