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Die andere Perspektive

Canan Topçu über Antirassismus, Tabu-Wörter und Opfer-Täter-Narrative

Group of people activists with megaphone protesting on streets, strike and demonstration concept.
Eigentlich will man zusammenwachsen. Doch wie? Canan Topçu meint, so wie wir derzeit miteinander sprechen, wird es nichts.Bild: iStockphoto / Halfpoint
Die andere Perspektive

Canan Topçu kritisiert einseitige Antirassismus-Debatten: "Finde mich in dieser wütenden Haltung nicht wieder"

24.03.2022, 19:4528.03.2022, 09:19
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Wer einen Artikel über Rassismus schreibt, gerät schnell ins Schleudern – vor allem in Bezug auf Begrifflichkeiten: Ist Deutscher mit Migrationshintergrund noch eine angemessene Umschreibung für unsere Nachgeneration? Ist das Wort "ausländisch" beleidigend? Warum schreibt man "weiß" klein und "Schwarz" groß? Reicht PoC oder schließt man damit BPoC oder BIPoC aus? Und nicht zuletzt: Wenn ich einen "falschen" Ausdruck verwende, wartet dann ein Shitstorm?

Es ist kompliziert. Canan Topçu, selbst Journalistin und seit rund drei Jahrzehnten aktiv in antirassistischer Arbeit, weiß um dieses Dilemma. Begriffe, die vor Kurzem noch als korrekt galten, werden heute als zutiefst ignorant empfunden, im schlimmsten Fall rassistisch und wer sie verwendet, ist unten durch. Das, so ihre These, führe dazu, dass viele Menschen sich aus der Debatte entfernen, um ja nichts Falsches zu sagen und der Diskurs erlahmt.

Doch nicht nur die Wortwahl, auch die Frisur kann inzwischen ein Grund sein, gecancelt zu werden – so ist es Ronja Maltzahn gerade ergangen. Maltzahn ist eine Sängerin, die wie sie selbst sagt, in sieben Sprachen Musik macht und damit "kultureller Vielfalt eine Bühne geben" will. Sie engagiert sich für Friedensprojekte, Gender-Equality und Toleranz und unterstützt Friday For Future, weil die Bewegung aus Menschen bestünde, die "für ganz tolle Themen einstehen, für die ich auch persönlich als Privatperson aber auch mit meiner Kunst einstehen möchte", wie sie auf Instagram erklärt.

Die Musikerin sollte daher eigentlich morgen in Hannover bei einer FFF-Demo auftreten, um ein Zeichen "gegen Diskriminierung" zu setzen, wurde dann aber kurzfristig wieder ausgeladen, weil sie Dreadlocks trägt. Als weiße Person mache sie sich damit der kulturellen Aneignung schuldig, "aus diesem Grund sollten weiße Menschen keine Dreadlocks tragen", belehrten sie die Veranstalter, "wir hoffen, dass du dich damit auseinandersetzt". Man würde sie allerdings "spielen lassen", sofern sie sich bis Freitag entscheiden würde, ihre "Dreadlocks abzuschneiden". Unnötig zu erwähnen, dass diese Absage für ziemlich viel Diskussion sorgte.

Es ist ein Vorfall, der Topçus' Beobachtung bestätigt, die sagt, der Duktus in der Szene sei "schroff und unversöhnlich" geworden. Sie selbst, als in der Türkei Geborene, fände sich in der "wütenden Haltung" einiger Aktivisten nicht mehr wieder, die auf Fauxpas lauerten anstatt den Dialog voranzutreiben. Über ihren Wunsch nach mehr Zwischentönen schrieb die 57-Jährige deshalb ein Buch (Nicht mein Antirassismus: Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten. Eine Ermutigung. Quadriga Verlag).

Canan Topcu, Journalistin, Dozentin, aufgenommen am 23.03.2017 während der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner" zum Thema "Türken in Deutschland - spaltet Erdogan das Land?" im ZDF-Hau ...
Canan Topçu 2017 als Talkshowgast beim ZDF.Bild: dpa-Zentralbild / Karlheinz Schindler

Die Hanauerin ist mit ihrer Haltung nicht alleine. Fast zeitgleich hat John McWorther, ein Professor der Columbia University in New York, ein viel diskutiertes Buch veröffentlicht, in dem er den Antirassismus in den USA kritisiert, der religiöse Züge angenommen hätte. Insbesondere weiße Akademiker würden sich mit ihrer "woken" Tugendhaftigkeit zu Erlösern der Schwarzen stilisieren und damit das Problem eher noch verschärfen, so McWhorthers' Vorwurf.

Sind das dringend benötigte Stimmen, um die Debatte wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen? Oder spielt solche Kritik nur rechten Strömungen in die Hände? Für watson sprachen wir mit Canan Topçu über Tabu-Wörter, Shitstorms und aufgeklärte Herkunftsdeutsche, die begeistert applaudieren, wenn sie beleidigt werden.

Was die Autorin beobachtet:

"Dass sich engagierte Leute aus dem Antirassismus-Diskurs zurückziehen und lieber schweigen, weil sie einfach Angst haben, das Falsche zu sagen, einen falschen Begriff zu verwenden oder die falsche Frage zu stellen."

watson: Sie sind seit rund 30 Jahren in der Antirassismus-Arbeit. Was stört Sie so an der aktuellen Debatte, dass Sie dazu sogar ein Buch schrieben?

Canan Topçu: Ich habe festgestellt, dass der Duktus ein anderer geworden ist, schroff und unversöhnlich und mit sehr viel Polarisierung und Zuschreibungen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, den "Weißen", den "Privilegierten". Es gab so ein Schlüsselerlebnis, bei dem mir das ganz deutlich wurde: Ich war bei einer Lesung, bei der sich die Autoren sehr herablassend über Herkunftsdeutsche lustig machten. Sie ergossen all ihre Wut und ihren Hass in den vollen Saal, es fand eine regelrechte Publikumsbeschimpfung statt. Denn unter den Zuhörern waren auch viele, um die es ging, allem Anschein nach Deutsche. Vor allem junge Leute aus dem linksliberalen Spektrum – und sie lachten und applaudierten. Ich saß nur noch da und dachte: Was ist denn hier los?! Das hat bei mir viele Fragen aufgeworfen.

Und danach?

Danach habe ich diese ganzen Debatten viel intensiver verfolgt, sowohl medial und auf Twitter, als auch in der realen Welt. Und mir wurde zunehmend klar: Ich fremdle in diesen Diskussionen. Ich finde mich in dieser wütenden Haltung nicht wieder. Das hat mich zuerst einmal an meiner eigenen Wahrnehmung zweifeln lassen. Ich dachte, dass ich vielleicht verblendet bin, dass ich diesen massiven Rassismus von dem alle sprechen, nicht sehen kann, weil ich ihn nicht sehen will. Ich habe das auch in meiner Psychotherapie thematisiert und mich intensiv mit mir selbst und meiner Biografie auseinandergesetzt.

Mit welchem Ergebnis?

Dass ich zu meiner Wahrnehmung stehen sollte. Ich bin seit 25, 30 Jahren aktiv in der Antidiskriminierungs-Arbeit und ich gestehe mir zu, meiner persönlichen Bewertung zu vertrauen. Aber es war mir wichtig, mich erst einmal selbst zu hinterfragen und nicht gleich das erste Bauchgefühl als Wahrheit hinzustellen.

Und wie nehmen Sie Deutschland wahr? Und die Deutschen?

Die derzeitigen Antirassismus-Debatten stellen nur einen Teil der Realität dar. Es wird aber oft der Anspruch erhoben, dass generell jeder Herkunftsdeutsche an sich zu arbeiten habe, weil das gesamte Gesellschaftssystem rassistisch sei. Und das hat mich verstört, weil ich dieses Land und viele Menschen in diesem Land anders kennengelernt habe. Ich denke, dass es nicht richtig ist, die Gesellschaft in "weiß" und "nicht-weiß" aufzuteilen, und wir dem autochthonen (Anm. d. Red. altgriechisch für "einheimisch, eingeboren, hier entstanden") Teil der Bevölkerung Unrecht tun, wenn wir sie als weiß und rassistisch, als privilegiert abstempeln. Das ist so die Vorgeschichte.

"Es verletzt mich, pauschal als Täter betrachtet zu werden", hört man allerdings nicht so oft. Wenn es Reaktionen gibt, dann eher nach dem Motto: "Ich lass es mir aber nicht verbieten, Zigeunerschnitzel zu sagen!"

Ja, aber genau das ist eben die Reaktion darauf, wenn man sich in der Defensive fühlt. Das sind Menschen, die auf Rassismus-Vorwürfe beleidigt reagieren, indem sie sagen, sie lassen sich nicht das Wort verbieten, jetzt erst Recht nicht mehr.

"Der Mensch und die Gesellschaft ist so viel komplexer, als es die Debatte derzeit vermittelt."

Ist das nicht Täter-Opfer-Umkehr?

Das ist eines von diesen Schablonen-Argumenten, die im Diskurs hervorgeholt werden, um die Gegenseite platt zu machen und sich nicht weiter mit der Thematik zu beschäftigen. Eine Täter-Opfer-Umkehr geht ja davon aus, dass es eindeutige Opfer und Täter gibt, aber das sind genau die Einteilungen, gegen die ich versuche anzudenken. Wir alle tragen Täter- und auch Opfer-Anteile in uns. Mich selbst eingeschlossen. Der Mensch und die Gesellschaft ist so viel komplexer, als es die Debatte derzeit vermittelt. Ich möchte andere dazu ermuntern, sich aus diesen Schablonen-Argumenten zu bewegen und den Mut zu haben, in sich zu gehen, auch über die eigene Borniertheit und Beschränktheit zu reflektieren. Dieser Wunsch geht sowohl raus an die Menschen, die sagen: "Ich bin das Opfer" und die denken oder gar auch offen aussprechen, grundsätzlich im Recht zu sein –, als auch an die Menschen, die behaupten: "Ihr macht uns zu Rassisten, dabei ist hier alles prima". Es gibt ganz klar rassistische Muster und Verhaltensweisen in diesem Land, aber nicht ALLES ist Rassismus. Das wäre auch viel zu einfach, viel zu platt.

Sie glauben, das Narrativ von Täter und Opfer spaltet die Gesellschaft weiter. Können Sie das ausführen?

Es ist ein Trugschluss zu denken, dass jemand zum überzeugten Antirassisten wird, weil man ihm vorwirft, er sei rassistisch. Es braucht natürlich eine gewisse Polarisierung, um Probleme deutlich zu benennen, aber die Aggressivität mit der einige Aktivisten darauf lauern, jeden, der sich zu Wort meldet, als Rassisten zu entlarven, führt nicht zu mehr Solidarität. Eigentlich brauchen wir mehr Mitstreiter und ein gemeinsames Bemühen für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Diese Mitstreiter erreicht man aber nicht mit Unterstellungen. Um das zu verstehen, muss man doch nur mal in sich selbst hineinhorchen: Wie reagiere ich selbst denn auf Angriffe und Vorwürfe? Fühle ich mich dem Anderen dadurch näher?!

Es fällt Ihnen vielleicht leichter, das so zu sehen, weil Sie sich nie als Opfer gefühlt haben. Dabei haben sie auch Rassismus erlebt. Wie passt das zusammen?

Das ist eine Frage, die ich mir schon oft gestellt habe. Ich habe für mich zwei Antworten ausgemacht, aber ob ich damit richtig liege, weiß ich nicht. Zuerst einmal habe ich mich durch meine Eltern als ein sehr geliebtes Kind wahrgenommen und war mit einem guten Selbstwertgefühl ausgestattet. Meine Mutter hat immer gesagt: "Halt nicht noch die zweite Backe hin. Wehre dich!" Dadurch habe ich mich nie ohnmächtig gefühlt. Und dann habe ich dieses Land auch, trotz der Ausgrenzung und Diskriminierung, als ein Land empfunden, das mir Möglichkeiten bietet, die ich nicht gehabt hätte, wenn wir in der Türkei geblieben wären.

"Es ist ein Trugschluss zu denken, dass jemand zum überzeugten Antirassisten wird, weil man ihm vorwirft, er sei rassistisch."

Wie meinen Sie das?

Ich habe viel Unterstützung erfahren und Chancen erhalten, auch von Herkunftsdeutschen. Auch von den "alten, weißen Männern", über die so oft geschimpft wird. Aus dieser Erfahrung heraus ist mir ein wertschätzender Umgang miteinander so wichtig. Denn trotz der Rassisten, die es hier gibt – die es aber übrigens in jedem Land gibt – ist in Deutschland eine starke Zivilgesellschaft entstanden. Ich bin im Rahmen meiner Arbeit gegen Rassismus mit so vielen Menschen zusammengekommen, die sich offen und ehrlich für eine gerechte Gesellschaft engagieren. Und all diesen Menschen tut man Unrecht, wenn man sie pauschal beschimpft: Als Rassist, als Alman, als Privilegierte, als Kartoffel. In diesen Kanon kann ich nicht einstimmen.

Wie finden Sie es, Deutsche als Kartoffeln zu bezeichnen?

Wenn ich in ein Gespräch kommen möchte, ist es doch immer die erste Regel, dem anderen wertschätzend entgegenzutreten. Das ist ein Grundprinzip der Kommunikation. Wenn ich ein Gespräch damit eröffne, jemanden "Kartoffel" zu nennen, brauche ich mich nicht wundern, dass es schlecht läuft. Ich wäre dafür, dass wir es ganz prinzipiell lassen, Menschen als Essen zu beschimpfen – das gilt für Kartoffeln, Spaghettis und Kümmel. Völlig egal, ob die anderen eine "Machtposition" als Mehrheitsgesellschaft haben.

Sie wuchsen in der Türkei auf. Aber viele der jungen Stimmen in der Debatte sind in Deutschland geboren. Spielt das eine Rolle?

Wer hier geboren ist, fordert zu Recht mit einer ganz anderen Selbstverständlichkeit ein, als Deutscher betrachtet zu werden. Das kann ich gut nachvollziehen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass diese Entwicklung der Migration in vielen Gegenden Deutschlands immer noch nicht angekommen ist. In großen Städten und Multikulti-Blasen ist inzwischen Realität, dass Menschen mit diesem oder jenem Phänotyp auch Deutsche sind. Aber diese Entwicklung hat sich nicht überall gleich schnell vollzogen, und mit dieser Ungleichzeitigkeit der gesellschaftlichen Wahrnehmung müssen wir lernen, so umzugehen, dass wir niemanden abhängen. In der tiefsten Provinz ist man vielleicht ehrlich überrascht, einen Menschen mit dunkler Haut mit regionalem Dialekt sprechen zu hören. Wenn aber schon die Frage nach "Wo kommen Sie her?" dann zu wütenden Reaktionen führt, holt man die Menschen nicht mehr ab. Es geht darum, auch den Leuten, die noch nicht viel Berührung mit dem Thema hatten, eine Chance zu geben, zu lernen.

"Wenn ich ein Gespräch damit eröffne, jemanden 'Kartoffel' zu nennen, brauche ich mich nicht wundern, dass es schlecht läuft."

Sie fordern mehr Geduld mit den Alteingesessenen?

Ich empfinde es zumindest als meine Aufgabe, mal ein paar Zwischentöne in die Debatte zu bringen. Natürlich sind wir nicht mehr die Gesellschaft von vor 50, 60 Jahren. Deutschland ist pluraler und wird globaler. Aber, liebe Leute, ob ihr es wollt oder nicht: Das ist noch nicht überall in der Republik angekommen und ihr könntet da schon etwas geduldiger sein. Vielleicht ist genau das auch das Drama der Dazwischen-Generation, dass sie diesen Übergangs-Zustand aushalten muss.

Trotzdem kann diese Unwissenheit Menschen verletzen.

Mittlerweile führen wir Diskussionen darüber, dass wir eine Gesellschaft sein wollen, in der niemand jemals verletzt wird. Das ist Utopie. Eine Gesellschaft, die zulässt, dass unterschiedliche Meinungen nebeneinander bestehen dürfen, wird ohne Reibung nicht auskommen. Es sollte daher auch darum gehen, eine gewisse Resilienz zu entwickeln und ganz generell auch mit schwierigen Situationen des Lebens umgehen zu können – selbstbewusste Gelassenheit ist für jeden Menschen eine wichtige Fähigkeit, ungeachtet der Ethnie. Ich kann mir natürlich wünschen, dass alle mir gegenüber wertschätzend sind und ich kann meinerseits auch wertschätzend sein, aber ich habe keinen Anspruch darauf. Die Verletzlichkeit wird zum Druckmittel, um sie jederzeit für mich zu beanspruchen, um unangenehmen Themen aus dem Weg zu gehen. Kurzfristig mag es sich wie ein Erfolgserlebnis anfühlen, wenn das Außen mich mit Samthandschuhen anfasst und ich dadurch geschützt werde, aber langfristig ist das eine ungute Dynamik.

Warum?

Erstens ist es doch gar nicht so schön, wenn permanent alle ganz vorsichtig um einen herumschleichen und zweitens kommt die Debatte dadurch zum Erliegen. Ich habe im Vorfeld zu meinem Buch mit vielen Menschen gesprochen und wissen Sie, was ich immer wieder für Situationen geschildert bekommen habe? Dass sich engagierte Leute aus dem Antirassismus-Diskurs zurückziehen und lieber schweigen, weil sie einfach Angst haben, das Falsche zu sagen, einen falschen Begriff zu verwenden oder die falsche Frage zu stellen. Ich möchte in keiner Gesellschaft leben, in der Menschen nicht mehr offen mit mir sprechen, sondern sich ihre Fragen verkneifen. Aus Schiss. Was gewinnen wir dadurch?

Es kommt allerdings ja auch darauf an, wer was sagt – besonders deutlich wird das, wenn das "N-Wort" fällt.

Dass Sie sich jetzt nicht mal im Interview trauen, das Wort Neger auszusprechen, bringt die Absurdität doch auf den Punkt! Wir beschimpfen hier doch gerade niemanden mit dunkler Haut, wir reden über Rassismus und Rassismus-Debatten. Einzelne Wörter zu verbieten, ohne den Kontext mit einzubeziehen ist kontraproduktiv; es sollte darum gehen zu kontextualisieren!

Es ist Ihres Erachtens also nicht nur wichtig, wie ein Wort ankommt, sondern auch, wie es gemeint war?

Natürlich. Momentan wird es als Form des Empowerments verstanden, wenn die verletzbare Minderheit pauschal darüber entscheidet, was gesagt werden darf und was nicht. Doch wer sich mit Kommunikationsforschung beschäftigt, weiß genau, dass die Intention einer Nachricht immer eine Rolle spielt, die mit einbezogen werden muss. Es ist die Grundbasis von Kommunikation, dass zwei Menschen nicht nur miteinander reden, sondern auch in den anderen hineinspüren: Warum sagt er das jetzt? Was ist seine Absicht? Ist er neugierig und möchte mehr über mich wissen? Oder will er mich kleinmachen? Das zu unterscheiden ist wichtig. Dazu gehört Kommunikationskompetenz, die wir uns aneignen sollten und eine gewisse Sensibilität, die wir uns unbedingt erhalten sollten.

"Momentan wird es als Form des Empowerments verstanden, wenn die verletzbare Minderheit pauschal darüber entscheidet, was gesagt werden darf und was nicht."

Es heißt aber, allein das Ausschreiben rassistischer Wörter führe zur Reproduktion.

Was ist das denn für eine Debattenkultur? Ich werde doch den Rassismus nicht los, indem ich Wörter aus dem Diskurs verbanne. Gerade wer als Journalist arbeitet, muss die Dinge doch auch benennen. Wenn ich einen Politiker zitiere, der zum Beispiel "Neger" gesagt hat und dann N*** schreibe, ist das verfälscht, weil man sich fragt: "Hat der echt 'N-Sternchen-Sternchen-Sternchen' gesagt?" Es ist zudem bedenklich, wenn sich in Redaktionen diese paternalistische Haltung durchsetzt, dass man entscheiden müsse, welche Wörter man verwendet, um als Retter gegen Diskriminierte aufzutreten.

Aber im Ergebnis bedeutet das einen Shitstorm über Social Media.

Das muss man dann aushalten. Mir wird oft gesagt, ich wolle mich bei den Weißen anbiedern. Ich wolle Publicity und Geld, oder ich leide unter dem Stockholm-Syndrom, so dass ich den ganzen Rassismus um mich herum ausblende. Aber ich habe eine Haltung und die kann ich gut begründen. Damit komme ich klar.

Wird Ihnen nicht vorgeworfen, dass Sie mit Ihrer Argumentation rechte Kreise unterstützen?

Doch, und ich weiß, dass es eine sehr feine Balance ist, Kritik an Formen der Antirassismus-Debatte zu üben, ohne Rassismus selbst in Frage zu stellen. Ich möchte auf keinen Fall, dass mein Buch, meine Gedanken, mein lautes Nachdenken von Rechten instrumentalisiert wird. Das würde meine jahrzehntelange Arbeit völlig konterkarieren. Ich möchte viel eher einen Denkanstoß geben. Ich verstehe mich als jemand, die eine Stimme aus dem Kreis der Antirassismus-Akteuren ist, die nicht ganz so wütend ist, das große Ganze im Blick hat. Ich wünsche mir nur eine offene Debatte, die nicht nach den vorgefertigten Argumentationsstrukturen verläuft, die derzeit sogar in Kursen beigebracht werden. Denn so kommen wir nicht weiter.

Was für Kurse meinen Sie?

Es gibt zahlreiche "Empowerment"-Kurse und -Workshops, in denen Antirassismus unterrichtet wird. Das ist – auch das traut sich ja kaum jemand auszusprechen – ein Geschäftsmodell; es liegen aber überhaupt keine validen Erkenntnisse zu Grunde, dass durch diese Workshops tatsächlich Ressentiments abgebaut werden. Stattdessen werden dort oft ebenjene Schablonen-Argumente geliefert, die den Diskurs zum Erliegen bringen. Das ist meines Erachtens fahrlässig.

"Ich wünsche mir nur eine offene Debatte, die nicht nach den vorgefertigten Argumentationsstrukturen verläuft."

Woher stammt die "Empowerment"-Idee?

Viele der heutigen Debatten sind aus den USA importiert, so auch die "Safe Spaces", das Konzept der "Critical Whiteness" und auch der Begriff der "BPoC" (Black and People of Color). Dieser Rassismus-Diskurs aus den USA wirkt bis in die deutsche Gesellschaft hinein, wobei die Vergleiche oft genug hinken. Zum Beispiel wird inzwischen oft verlangt, man solle BIPoC sagen, damit die "Indigenous", also die "indigenen Einheimischen" auch mitberücksichtigt werden. Da frage ich mich schon: Wer sollen denn diese indigenen Ureinwohner Deutschlands sein, die man hier erwähnt?! Man muss schon ein bisschen kritisch hinschauen, bevor man so etwas übernimmt. Auch die Geschichte unseres Landes ist eine andere als die der USA, die Zusammensetzung der Minderheiten ist eine andere. In Deutschland hat es die extreme Form der Sklaverei auf Plantagen so zum Beispiel nicht gegeben. Dafür haben wir unter anderem Migration durch Gastarbeiter erlebt – die in deutschen Lehrplänen aber kaum Beachtung findet.

Sollte sie das?

Ich würde es sehr begrüßen, wenn die deutsche Migrationsgeschichte inhaltlich mehr im Unterricht thematisiert wird, weil sie auch Teil unseres täglichen Miteinanders ist. Viele wissen zu wenig über die Gründe, warum ihre Familien überhaupt nach Deutschland migriert sind und unter welchen Umständen das geschah. Ich ermutige die Jugendlichen, mit denen ich zu tun habe, ihre Biografie zu erforschen und sich eine eigene Meinung zu bilden: Welche Vorbehalte sind mir schon begegnet? Und welche Vorbehalte trage ich selbst mit mir herum? Welche Möglichkeiten stehen in meiner Macht, um diese negativen Erfahrungen zu korrigieren? Mündige, kritische junge Menschen sind ein Gewinn für die Gesellschaft und deshalb sollten wir auch nicht verlernen, einander zuzuhören und vor allem: Offen miteinander zu sprechen.

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