"Zwei mal drei macht vier, widdewiddewitt und drei macht Neune, ich mach' mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt ...", singt die Heldin Pippi Langstrumpf im Titelsong der Serie zu Astrid Lindgrens gleichnamigen Kinderbuchklassiker aus den 1940er Jahren. Doch wenn Kinderbuchhelden gegen politische Korrektheit verstoßen, hört auch für sie der Spaß auf.
Derzeit tobt unter Schriftstellern und in Feuilletons eine erbitterte Debatte um sprachliche Anpassungen bestehender literarischer Werke. Auslöser waren Änderungen, die der Puffin-Verlag an der englischen Originalfassung an zehn von 19 Werken des Schriftstellers Roald Dahl vornehmen ließ. Darunter sind weltbekannte und beliebte Kinderbuchklassiker wie "Charlie und die Schokoladenfabrik", "Hexen hexen" und "Matilda".
Dabei sind die Änderungen zunächst verständlich, handelt es sich doch durchaus um diskriminierende oder despektierliche Ausdrücke: Charlies verfressener Gegenspieler Augustus Glupsch ist demnach nicht mehr "fat" – zu Deutsch: "fett", sondern darf nur noch "enormous" sein – übersetzt wäre das etwa "kräftig". Dahls böse Hexen dürfen im normalen Leben nun "Top-Wissenschaftlerinnen oder Geschäftsführerinnen" statt "Kassiererin oder Sekretärin" sein.
Ambivalenter wird es bei "Matilda": Im Roman darf die Heldin nun nicht mehr mit "Rudyard Kipling nach Indien" reisen oder mit "Joseph Conrad auf Segelschiffen aus alten Zeiten" segeln. Ihre Abenteuer klingen nun gar nicht mehr so exotisch. In der Neufassung heißt es laut der UK-Zeitung "Telegraph": "Sie besuchte Landgüter des 19. Jahrhunderts mit Jane Austen. Sie reiste mit Ernest Hemingway nach Afrika und mit John Steinbeck nach Kalifornien."
Dahingestellt sei, ob die Diskriminierung von Frauen in der prüde-bigotten Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, wie sie in den Sittengemälden von Jane Austen dokumentiert ist, eine bessere Alternative zu den kolonialen Bezügen einer Reise mit Rudyard Kipling nach Indien darstellt. Frauen werden in Austens Romanen als Heiratsmaterial verschachert, müssen ansonsten sittsam sticken und still die Männer anhimmeln.
Der Puffin-Verlag und die Roald-Dahl-Gesellschaft verteidigen die Änderungen: So könnten "Dahls wunderbare Geschichten und Figuren auch heute noch von allen Kindern genossen werden". Die Änderungen beträfen Gewicht, psychische Gesundheit, Gewalt, Gender und Hautfarbe.
Dies sei "bei der Veröffentlichung neuer Auflagen von vor Jahren erstmals verlegten Büchern nicht ungewöhnlich", bestätigt der deutsche Verlag von Roald Dahls Kinderklassikern, Penguin Junior, auf Nachfrage von watson. Es gehe darum, "neben der Aktualisierung von Details wie Cover und Satz auch die verwendete Sprache zu überprüfen", erklärt Julia Decker, Leiterin PR und Öffentlichkeitsarbeit.
Doch die Kritik richtet sich vornehmlich an einem anderen Aspekt aus: Darf man ein literarisches Kunstwerk, wenn auch unter noch so hehren Absichten, überhaupt verändern? Ist die unverwechselbare Sprache eines Autors nicht die Essenz seines künstlerischen Werkes?
Der Autor und Booker-Preisträger Salman Rushdie hat hierzu auf Twitter klar Position bezogen und bezeichnet die Neufassung als "absurde Zensur":
Rushdie weiß um die Macht der Worte: Er bezahlte 1989 die Veröffentlichung seiner "Satanischen Verse" mit einer "Fatwa", einem Todesurteil nach islamischem Recht. Und wurde damals von Dahl selbst angegriffen: Er nannte Rushdie einen "gefährlichen Opportunisten", der mit seinem Werk bewusst die Gefühle religiöser Muslime verletze. Und weiter: Schriftsteller müssten ein gewisses Maß an Selbstzensur ausüben. Ob Dahl wohl heute die Änderungen in seinem Werk unter dieser Begründung gutheißen würde?
Der Schriftsteller Rushdie sieht Dahl als Person ebenfalls kritisch, und dennoch verteidigt er sein literarisches Werk gegen die "kriecherische Befindlichkeitspolizei". Rushdie hat inzwischen prominente Mitstreiter in der Debatte. Der britische Premierminister Rishi Sunak ließ laut "BBC" über einen Sprecher in den Worten von Dahls Buchfigur "Big Friendly Giant" ausrichten, "not to gobblefunk with words": Man solle das vielfältige und reiche Erbe der Sprache bewahren und nicht stromlinienförmig machen.
Die britische "Queen Consort" Camilla sagte jüngst in einer Rede im Rahmen ihrer Initiative "The Reading Room", unter anderem auch vor bekannten Literaten: "Bitte bleiben Sie Ihrer Berufung treu und lassen Sie sich nicht von denen einschränken, die die Freiheit Ihres Ausdrucks einschränken oder Ihrer Fantasie Grenzen setzen wollen."
Auch in der deutschen Literaturszene regt sich Widerstand: So zählt sich Reiner Moritz, Literaturkritiker und Leiter des Literaturhauses Hamburg, im "Deutschlandfunk Kultur" eindeutig zum "Team Rushdie": "Es ist ein Eingriff in die Literatur und eine völlige Verkennung, was Literatur ist."
Literatur folge eben nicht den Gesetzmäßigkeiten von öffentlichen Diskursen, sie war immer dazu da, "uns zu verstören." Weiter sagt Moritz: "Ich habe das Gefühl, dass man gar keine Verstörung mehr zulassen will, dass man auch den Leserinnen und Lesern gar nichts mehr zumuten will, keine Unterscheidungskraft mehr zuspricht."
Die Verlage seien "übervorsichtig geworden", überall gebe es Triggerwarnungen und den Einsatz sogenannter "Sensitivity Reader". Spezielle Lektoren überprüfen dabei Texte auf problematische Ausdrucksweisen betreffend Rassismus, Sexismus, Ableismus (Anmerkung d. Red.: Diskriminierung wegen einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung), Queerfeindlichkeit oder Klassismus, die so vom Autor nicht intendiert waren.
Auch Penguin Junior arbeitet laut Sprecherin Julia Decker mit "Sensitivity Readern", allerdings bisher ausgewählt und hauptsächlich im Jugendbuch. "Immer dann, wenn ein internes Lektorat uns nicht ausreichend erscheint, weil der Text eine Lebenswirklichkeit wiedergibt, deren Facetten intern nicht ausreichend erfasst werden können."
Man müsse beim Lektorat aber unterscheiden, sagt Literaturkritiker Moritz:
Es habe auch bereits Korrekturen bei Werken von Otfried Preußler, Astrid Lindgren und Michael Ende gegeben. Diese hätten, laut Reiner Moritz, "jedoch längst nicht dieses Gewicht" gehabt.
So wurde aus Pippi Langstrumpfs Vater statt dem Herrscher über Taka-Tuka-Land ein Südsee-König, Kinder in der "Kleinen Hexe" verkleiden sich in der aktuellen Fassung einer Faschingsszene nicht mehr als Türken. Michael Ende nahm 1981 selbst Änderungen an seinem Buch "Jim Knopf und der Lokomotivführer" vor: Das chinesische Kaiserreich ersetzte er durch das Fantasieland "Mandala".
Eine zeitgemäße Anpassung von bestehender Literatur sieht Reiner Moritz dennoch grundsätzlich kritisch. Aus diesen Korrekturen dringe ein Bewusstsein, dass unser gegenwärtiger Stand an Wissen und Einschätzungen nicht mehr zu überbieten sei. Dass man vielleicht auch diese in 30 Jahren anders sehen könne, werde in solchen Verbesserungen völlig vergessen. Er schlägt eine andere Vorgehensweise vor: "Man kann beim Vorlesen als Eltern korrigieren. Man kann als Verlag Fußnoten setzen, man kann ein Nachwort hintanstellen. Ich glaube, da gibt es Möglichkeiten, einzuwirken."