Die Telefone klingeln, das E-Mail-Postfach quillt über, Patienten laufen Sturm: Seit die Priorisierung für den Covid-19- Impfstoff von Astrazeneca aufgehoben wurde und Gesundheitsminister Jens Spahn ankündigte, zum 7. Juni würden auch die Priorisierungsregeln für das Vakzin von Biontech fallen, erleben deutsche Hausärzte einen Ansturm an Impfanfragen, der kaum mehr zu stemmen scheint.
"Der Run auf die Hausärzte ist spürbar", berichtet die Ärztin Ulrike Reinsch aus Thüringen bei watson. "Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Zum einen natürlich die Aufhebung der Priorisierung, zum anderen aber auch, dass die Abstände zwischen Erst- und Zweitimpfung verkürzt werden können."
Dass der vollständige Impfschutz den Menschen wieder mehr Freiheiten verspricht, ist gerade jetzt, kurz vor dem Sommer, ein weiterer verstärkender Faktor. Viele Deutsche wollen geimpft werden und das möglichst schnell. Aber ist das überhaupt machbar?
Watson sprach mit fünf Hausärzten, um sich ein Bild der Lage zu machen und erhielt mehrheitlich die Antwort: Das Versprechen der Bundesregierung sei zu vollmundig gewesen, aus ganz praktischen Gründen wird eben nicht jeder Deutsche bis zum Sommer geimpft sein. Und diese Gründe sind zahlreich, wie die Ärzte aus ihrem Praxisalltag berichten.
Der plötzliche Andrang bringt die Praxisteams an ihre Grenzen, berichten die Mediziner. "Viele Bürger kontaktieren die Hausarztpraxis mit allen denkbaren Kommunikationsmitteln, die vorher kaum eine Bedeutung hatten", berichtet der Berliner Hausarzt Gerhard Rudorf. Er bekomme nicht nur Mails, sondern sogar Briefe von Patienten, die sonst gar nicht bei ihm in Behandlung seien, Stammpatienten fragten zudem für ihre Angehörigen nach. "Das Telefon ist wegen der massiven, unzähligen Anfragen nicht mehr einsetzbar", erzählt er weiter, "es mussten neue digitale Kommunikationssysteme aktiviert werden."
Auch in Thüringen ist man überlastet, so Hausärztin Ulrike Reinsch: "Der Aufwand sprengt alles zuvor Dagewesene. Es ist unvorstellbar, was an Administration erforderlich ist, wenn es um die Impfungen geht: Wir müssen zahlreiche Patienten-Anfragen entgegennehmen, die Patienten einzeln zur Impfung einladen, lange Aufklärungsgespräche führen und die Impfungen mit einem enorm kurzen Vorlauf organisieren, da wir erst wenige Tage zuvor wissen, wie viele Dosen für uns die Woche zur Verfügung stehen werden."
All das geschehe zusätzlich zur Versorgung der erkrankten Patienten, für die dadurch weniger Zeit bliebe, kritisiert Hans-Michael Mühlenfeld aus Bremen: "Wir sind an der Grenze des Machbaren und kranke Patienten kommen zum Teil nicht mehr zeitgerecht durch", so der Allgemeinmediziner.
Um allen dennoch gerecht zu werden, leisteten die Ärzte, Arzthelfer und Sprechstundenhilfen schon seit Wochen Überstunden, zum Teil sprängen sie auch an freien Tagen ein. Ein Zustand, der nicht lange gutgehen kann. "Es ist dem Personal nicht zuzumuten, ständig außerhalb ihrer Arbeitszeiten in der Praxis Impfdienste zu machen", ergänzt der Berliner Hausarzt Wolfgang Kreischer. "Derzeit macht mein Personal etwa zehn Überstunden die Woche – das geht so nicht weiter."
Herbeigeführt wurde dieser Zustand durch die plötzlichen Ankündigungen der Politik, von denen die meisten der Mediziner selbst zunächst nur aus den Medien erfuhren. Eine Tatsache, die alle ärgert. "Es wäre sinnvoller gewesen, mit den Hausärzten das Vorgehen abzusprechen und Schritt für Schritt die Entpriorisierung einzuleiten. So wurden nicht erfüllbare Erwartungen geschürt", bemängelt Hausarzt Mühlenfeld.
Viele Mediziner fühlten sich, als müssten sie nun im Eiltempo die politischen Versäumnisse der vergangenen Monate ausbaden und das, obwohl immer noch zu wenig Impfstoff da ist. Mühlenfeld: "Wer großspurige Ankündigungen macht und den 7. Juni als Stichtag nennt, muss dann aber bitte auch bis zum 7. Juni endlich Biontech-Impfstoff in ausreichenden Mengen in die Praxen liefern."
Ein weiteres Ärgernis für Hausärzte ist die Unwirtschaftlichkeit der Impfungen für sie: Der Aufwand sei groß, der Ertrag klein. Zwanzig Euro würden die Ärzte pro Impfung abrechnen können, erklärt der Berliner Mediziner Martin Schmidt-Brücken. Das sei eine Honorierung, die besonders beim Impfstoff Astrazeneca und den damit verbundenen "zwanzig bis vierzig Minuten dauernden Aufklärungsgespräche nicht ausreicht", sagt er.
Hausärzte, die Impfungen anbieten, hätten also nicht nur zusätzlichen Organisationsdruck und Zeitmangel, sondern würden mit der üblichen Behandlung ihrer Patienten vermutlich mehr Geld verdienen. "Ich kenne Praxen, die angesichts dieser Unterdeckung gar nicht impfen oder mit dem Corona-Impfen aufhören", so Schmidt-Brücken.
Aber nicht nur für Ärzte, auch für ihre Patienten sei der derzeitige Zustand frustrierend. Einige von ihnen würden nicht verstehen, warum sie in den Nachrichten hören, dass sie geimpft werden können, ihr Arzt ihnen aber keinen Termin gibt.
Martin Schmidt-Brücken erlebt diesen Ärger jeden Tag in seiner Praxis. Die Impfwilligen seien "teilweise aggressiv" und vorwurfsvoll. "Der Gesundheitsminister hat doch gesagt, alle könnten jetzt schnell geimpft werden", "Meine Nachbarn sind geimpft", "Ich habe ein Anrecht auf die Impfung, ich habe meinen Urlaub schon gebucht" – all das bekäme er momentan zu hören. Schuld an dieser Erwartungshaltung sei die Politik, sagt er: "Wir als Hausarztpraxis sind erzürnt über die verantwortungslos-populistische und den Ärzten gegenüber unverschämte Haltung des Herrn Spahn. Er sollte sich vor irgendwelchen medienwirksamen Auftritten vorher überlegen, was er damit anrichtet."
Dem stimmt auch sein Kollege Wolfang Kreischer zu: "Herr Spahn hat sich nicht überlegt, wie unser Telefon nach seiner Ankündigung durchdreht. Es muss gleichzeitig deutlich gesagt werden, dass jetzt jeder zwar im Prinzip einen Termin bekommen kann, es aber realistischerweise nicht dazu kommen wird." Ansonsten würde eine "Erwartungshaltung geschürt , der so nicht entsprochen werden kann."
Tatsächlich hatte Jens Spahn erst im Nachhinein in der "Tagesschau" eingelenkt, dass die Entpriorisierung nicht bedeute, "dass wir dann alle binnen weniger Tage impfen können". Die Bevölkerung müsse weiterhin Geduld haben.
Doch warum können die Ärzte noch nicht jedem Patienten einen Impftermin geben? Weil es immer noch an Impfstoff fehlt, so die simple Antwort der Mediziner. "Die Patienten erwarten, dass sie jetzt schnell eine Impfung bekommen. Das können wir aber leider nicht umsetzen, allein schon, weil die zugeteilten Impfstoffmengen noch zu gering sind", so Ulrike Reinsch dazu. "Wir haben momentan noch 500 Menschen auf der Warteliste für Biontech und können die nächsten zwei Wochen nur Zweitimpfungen umsetzen. Den Patienten zu erklären, dass sie deshalb doch noch über den Juni hinaus warten müssen, ist eine undankbare Aufgabe."
Auch Hans-Michael Mühlenfeld berichtet von Engpässen in seiner Praxis. Astrazeneca und Johnson & Johnson gebe es zwar in ausreichender Menge, es "wird aber von vielen Patienten nicht gewünscht". Das beliebte Biontech hingegen "ist weiterhin Mangelware, so können wir beispielsweise in Bremen pro Arzt die Woche nur 12 Dosen für Erstimpfungen bestellen – was nicht heißt, dass wir diese auch bekommen."
Seinen Kollegen aus Berlin macht das regelrecht wütend: "Die Bundesregierung muss endlich ausreichend Impfstoffe in die Praxen liefern und nicht öffentlich die Lüge verbreiten, es gäbe schon genug", sagt Martin Schmidt-Brücken. Momentan würden nur etwa dreißig bis vierzig Prozent der notwendigen Impfstoffe geliefert. Und damit wüchsen die Wartelisten in den Praxen weiter an.
Die besser verfügbaren Vektorimpfstoffe Astrazeneca und Johnson & Johnson, die in seltenen Fällen schwere Thrombosen bei jüngeren Menschen ausgelöst haben, sind inzwischen zwar für alle Altersklassen freigegeben. Vielen Ärzten ist aber nicht wohl dabei, diese entgegen der Empfehlung der Ständigen Impfkommission an unter 60-Jährige zu impfen – auch, weil die Haftung im Falle von auftretenden Nebenwirkungen weiterhin eine Grauzone ist.
Das Interesse der jüngeren Patienten an dem Impfstoff sei jedoch da, so die Mediziner. "Es ist für mich sehr kurios, zu sehen, dass sogar 20-Jährige kommen, die gerne Astrazeneca hätten, während viele Ältere dem Impfstoff gegenüber weiterhin skeptisch gegenüberstehen", berichtet Ulrike Reisch. Vom Grundsatz her finde sie es auch richtig, dass der Patient autonom entscheiden darf, ob er gewisse Risiken eingehen möchte. "Grundsätzlich impfe ich die Jungen aber lieber mit Biontech. Astrazeneca bekommen bei mir nur Menschen über 35 Jahre und auch nur nach einem ausführlichen Gespräch."
Ähnlich hält es der Berliner Hausarzt Rudorf: Bei ihm meldeten sich sogar junge Frauen, die von den Nebenwirkungen im Schnitt am meisten betroffen waren, nun aber schnell geimpft werden wollten. "In unserer Praxis geben wir jedoch diesem Wunsch nicht nach und impfen mehrheitlich Männer im Alter von 25 bis 58 Jahren mit Astrazeneca."
Vielen ihrer Kollegen seien die Diskussionen um Astrazeneca und die damit verbundenen Gespräche jedoch zu aufwändig. Sie verabreichten das Vakzin "ungern" – und wenn, dann an über 60-Jährige, so wie auch Martin Schmidt-Brücken: "Der von der Regierung, Medien und anderen verantwortungslos Agierenden 'verbrannte' Astra-Impfstoff ist kaum noch verimpfbar, auch Menschen über 70 Jahre haben Angst davor."
"Verantwortungslos", "unverschämt", "geht so nicht weiter" – was die Hausärzte von der politischen Umsetzung der Impfkampagne bislang halten, wirkt eindeutig.
Ihr Fazit: Der plötzliche Ansturm auf ihre Praxen schade am Ende vor allem ihren kranken Patienten, für die nun weniger Zeit ist und den überarbeiteten Angestellten. Impfen wollen sie trotzdem – es müsse aber in Zukunft realistischer kommuniziert werden, dass viele Deutsche wohl weiter warten müssen, bis auch sie immunisiert werden können.
Was die Mediziner außerdem fordern? Mehr Biontech, damit auch unter 60-Jährige zunehmend geimpft werden können. Eine bessere Vergütung, damit Hausärzte zumindest keine Verluste machen, wenn sie sich an der Impfkampagne beteiligen und vor allem: Keine medialen Ankündigungen von Impfprozessen, ohne mit den Ausführenden im Vorfeld zu klären, ob das überhaupt umsetzbar ist.