"Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten." So steht es in der Genfer Deklaration des Weltärztebundes.
Diese Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte verbietet eindeutig eine Diskriminierung von Patienten und Patientinnen aufgrund von Hautfarbe oder Herkunft.
Zum internationalen Tag gegen Rassismus hat watson nachgefragt: Wie zeigt sich Rassismus für Betroffene in Arztpraxen und Krankenhäusern? Welche Lösungsansätze gibt es?
Der Afrozensus 2020, die größte jemals durchgeführte Befragung unter Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland, gibt darüber Auskunft, wie sehr Schwarze Menschen von Rassismus im Gesundheitssystem betroffen sind. Vor allem Schwarze trans*, inter* und nicht-binäre Menschen erfahren im Vergleich zu Cis-Menschen besonders häufig Diskriminierung im Bereich Gesundheit und Pflege (81,7 Prozent).
Muna Aikins, die die Ergebnisse des Afrozensus mit veröffentlich hat, spricht in der Wochenzeitung "Die Zeit" von einer Nichtthematisierung von Rassismus im Gesundheitswesen: "In Deutschland klafft hier leider eine Riesenlücke. Viele Ärztinnen haben uns erzählt, dass sie sich ihre rassismuskritischen Weiterbildungen im Ausland suchen mussten."
Die Ärztekammer Schleswig-Holstein gibt in einer Pressemitteilung zu, dass Rassismus in der Medizin durchaus ein Problem ist, das angegangen werden muss. Dort wird sich allerdings auf Diskriminierung gegenüber Ärztinnen und Ärzten mit Migrationshintergrund bezogen. Zum Beispiel, wenn sich Patientinnen und Patienten nicht von medizinischem Personal of Color behandeln lassen wollen oder an deren Kompetenz zweifeln.
Anmerkung: Wenn nachstehend in diesem Artikel von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen wird, entspricht das keiner Einordnung von Redaktionsseite, sondern der Annahme, denen Betroffene im Alltag begegnen.
Rassismus in der Medizin gibt es also von Patienten gegenüber medizinischem Personal – und umgekehrt. Doch gerade Menschen, die krank sind und somit in einer Hilfe suchenden Position, trifft diskriminierendes Verhalten besonders hart. Sie sind als Patientinnen und Patienten in der Machthierarchie niedriger gestellt und darum angreifbarer und verletzlicher als medizinisches Personal selbst.
Diese Diskriminierung von BIPoCs (Black, Indigenous, People of Color) im deutschen Gesundheitssystem kann mehrere Ebenen haben: unbedachte Kommentare, falsche Stereotypen, die im Kopf verankert sind oder eine medizinisch mangelhafte Behandlung: Zum Beispiel, weil Hauterkrankungen bei Schwarzen Menschen anders aussehen können als bei Weißen Menschen, das im Studium aber nicht Thema war. Oder Ärzte denken, POCs hielten mehr Schmerzen aus (eine Vorurteil aus Kolonialzeiten) und geben ihnen deshalb weniger Schmerzmittel.
Ein Sprecher der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) gibt auf Anfrage von watson an, dass die jeweiligen Krankenhäuser "immer wieder Schulungen zum Thema Rassismus" organisieren. Die Berliner Charité beispielsweise das Fortbildungsprogramm IPIKA plus. Auch das Universitätsklinikum Tübingen und die Gruppe der Vivantes-Kliniken verweisen auf Nachfrage von watson auf hausinterne Seminare zur interkulturellen Kompetenz. Letztere hat seit Januar 2022 zudem einen Diversity-Rat.
Weitere Nachfragen von watson bei verschiedenen Universitätskliniken in Heidelberg, Dresden und München nach rassismuskritischen Fortbildungen in ihren Häusern wurden bisher nicht beantwortet. Die Problematik von Diskriminierung im Gesundheitswesen wird anscheinend immer mehr erkannt – ein Gegensteuern ist dringend nötig, wie folgende Erfahrungsberichte zeigen.
Triggerwarnung Rassismus: Der folgende Text beschreibt Erlebnisse von rassistischer Diskriminierung.
Auch die Autorin Menerva Hammad hat Rassismus in einer Notsituation erlebt. Vor kurzem erlitt ihr 70-Jähriger Vater den zweiten Schlaganfall und wurde vom medizinischen Personal diskriminiert, berichtet sie im Gespräch mit watson:
Dies war jedoch nicht der einzige rassistische Vorfall während des Reha-Aufenthalts. "Wir haben zig Formulare ausgefüllt, was er isst, was er nicht isst, worauf er allergisch ist", sagt Menerva Hammad. Trotzdem habe er Schweinefleisch zum Essen bekommen. "Als mein Vater ihnen gesagt, dass er das nicht isst, hat die eine Pflegekraft gesagt: 'Dann bekommen sie heute halt gar nix.'" Letzten Endes verließ ihr Vater eine Woche früher als geplant die Reha, weil er es nicht mehr dort aushielt, depressiv wurde und sich während der gesamten drei Wochen schlecht fühlte.
Nicht nur ihr Vater, auch Menerva Hammad selbst wurde schon beim Arzt diskriminiert – als frischgebackene Mutter:
Menerva berichtet weiter, die Ärztin habe noch behauptet, sie kenne sich super aus, weil ihr Mann ja Araber sei und sie den Koran gelesen habe. Und sie respektiere zwar die Menschen, aber sie verstehe nicht, warum man da quasi da überhaupt daran glaubt. "Ich bin mit dem Gefühl nach Hause gegangen, mein Kind ist untergewichtig und unterernährt. Ich hatte Schuldgefühle als Mutter, weil sie ein bisschen zierlich ist, aber sie ist eben so." Ein Besuch bei einem anderen Kinderarzt ergab, dass ihr Kind vollständig gesund und das Gewicht unbedenklich war.
Solche Erlebnisse führen oft dazu, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund innerhalb ihrer Community ein Netzwerk aufbauen, in dem sie sich ihre eigenen Ärzte suchen und weiterempfehlen. Dass sie sich bei einem Arzt oder Ärztin mit Migrationshintergrund oft wohler fühlt, berichtet auch Menerva:
Die Wiener Autorin spricht in diesem Kontext von "Gleichgesinnten", in deren Anwesenheit der Fokus wirklich auf ihren gesundheitlichen Problemen liege: "Die konzentriert sich wirklich nur auf das, warum man da ist." Trotzdem hat sie auch einige gute Ärzte, die keinen Migrationshintergrund haben – beispielsweise ihre neue Kinderärztin.
Dass es nicht die Lösung des Problems sein kann, sich in die eigenen Reihen zurückzuziehen, sagt auch Dr. med. Solmaz Golsabahi-Broclawski vom Medizinischen Institut für transkulturelle Kompetenz im Gespräch mit watson. Sie berichtet von eigenen Ambulanzen für Migranten in den 90er Jahren: deutsch-türkische Ambulanzen, deutsch-persische Ambulanzen und deutsch-bosnische Ambulanzen.
Sie sieht diese Programme kritisch und sagt: "Das heißt, man hat innerhalb der Diskriminierung diskriminiert." Mittlerweile gebe es aber auch transkulturelle Ambulanzen.
Denn ein Arzt mit Migrationshintergrund sei nicht automatisch der bessere. Bei dieser Annahme würden "am Ende alle Menschen mit Migrationshintergrund automatisch bei einem Kollegen landen, der so wie ich einen unaussprechbaren Namen hat." Golsabahi-Broclawski kritisiert dies als sinnlos, "denn die Tatsache, dass ich einen unaussprechbaren Namen habe, macht mich nicht empathischer oder weniger rassistisch".
Der.Bra.mit.Kittel ist der Instagram-Account eines Medizinstudenten. Seinen Account bezeichnet er gegenüber watson als Zufluchtsort für Ärzte mit Migrationshintergrund, die über diskriminierende Ereignisse als Ärzte und Ärztinnen, aber auch gegen Patienten und Patientinnen berichten. Eine kleine Auswahl einer Vielzahl von Rückmeldungen an ihn auf unseren Aufruf, von Rassismus in der Medizin zu berichten:
Chloe (Name v.d.Red.geändert), eine 32-jährige Schwarze Berlinerin, spricht gegenüber watson von einem Erlebnis bei der Frauenärztin: "Statt sich wirklich mit meinem Anliegen zu beschäftigen, hat sie nach jedem dritten Satz gesagt: 'Das ist ja üblich für Frauen mit ihrem Hauttyp'. Ich war irgendwie kein eigenständiger Mensch für sie, sondern hab' mich gefühlt wie ein Anschauungsobjekt in ihrem verstaubten Ethnologiebuch." Während des gesamten Besuchs musste Chloe sich die Gedanken der Ärztin anhören, wie etwa, dass "schwarze Frauen" beispielsweise grundsätzlich frühreif seien und stark menstruieren würden.
"Alles abgelesen an meinem Hauttyp – wow. Sie hat auch immer wieder erwähnt, dass sie viele Ausländerinnen behandeln würde." Es fühlte sich für Chloe an wie ein: "Kennste eine, kennste alle, wa." Und das, obwohl sich die Berliner Praxis speziell an multikulturelle Frauen richte. "Ich war echt sehr geschockt und seitdem nicht mehr bei einer Frauenärztin, irgendwie hatte ich keinen Bock mehr. Ich habe mich sehr entblößt und unwohl gefühlt in dieser intimen Situation."
In der westlichen Medizin werden weibliche BIPoCs oder Menschen mit Migrationshintergrund sogar doppelt diskriminiert: Frauen werden in der Entwicklung von Medikamenten und Therapien nicht berücksichtigt, wie Autorin Caroline Criado-Perez in ihrem Buch "Unsichtbare Frauen" herausarbeitete.
Denn die "medizinische Ausbildung basiert auf jahrhundertelanger Forschung, die auf die männliche weiße Bevölkerung fokussiert war", schreibt Dr. med. Solmaz Golsabahi-Broclawski vom Medizinischen Institut für transkulturelle Kompetenz in einem Aufsatz für die Fachzeitung "impulse". Warum ist das so, wollen wir wissen: "Es fängt schon damit an, dass wir immer den klassischen männlichen weißen Patienten als Vorbild haben, wenn wir die Lehrbücher in die Hand nehmen und anhand dessen Körper lernen", sagt sie in einem Gespräch mit watson.
Selbst in asiatischen Ländern werde als Standardwerk das klassische Herold-Lehrbuch verwendet – in dem der asiatische Körper überhaupt nicht vorkomme, wie die Ärztin von einem Kongress aus Japan über Innere Medizin berichtet. "Das heißt, das Ganze ist tatsächlich eine bisher verdeckte, versteckte, gut getarnte, gut gemeinte Missachtung der Vielfalt."
Sie selbst organisierte vor Corona eine der wenigen diskriminierungskritischen, transkulturellen Fortbildungen – deren Kosten nur selten von der Klinik bezahlt würden – und berichtet, dass es bei diesen Fortbildungen nicht nur um verletzende Wortwahl geht, sondern um "viel dramatischere Sachen": Rassismus in der Medizin gefährdet Menschenleben. Nicht nur, weil Betroffene nach schlechten Erfahrungen den Besuch beim Arzt oder der Ärztin meiden und möglicherweise lebensrettende Vorsorgeuntersuchungen verpassen, sondern auch, weil es aufgrund mangelhafter Ausbildung im Studium zu Fehldiagnosen kommen kann.
Als Beispiel nennt die Ärztin die Verkennung von Gelbsucht in den Augen "aufgrund der fehlenden Kontrast-Realisierungsfähigkeit" oder die Verabreichung und Dosierung von Medikamenten, von Schmerz- oder Betäubungsmitteln. Diese könnten bei Frauen teilweise anders wirken als bei Männern und bei einer weiblichen Asiatin wegen der genetischen Veranlagung wiederum ganz anders als bei einer Weißenm Frau. "Es sind ganz banale Sachen, die lebensbedrohlich werden können, wenn sie keine Beachtung finden."
Diese Tatsache fiel auch dem Medizinstudenten Malone Mukwende in seinem Unterricht auf: Seine Dozenten erklärten Krankheitssymptome lediglich an weißer Haut, Hauterkrankungen auf schwarzer Haut wurden dagegen komplett ignoriert. Auch in seinen Fachbüchern waren keine Beispiele für andere Hautfarben zu finden – und das, obwohl ein Großteil der Weltbevölkerung keine weiße Haut hat.
Doch diese Ignoranz kann gefährlich werden: Hautausschlag, Blutergüsse oder blaue Lippen könnten wichtige Indizien für schwere Krankheiten sein, aber auf schwarzer Haut anders aussehen als auf weißer Haut und daher gar nicht oder fehldiagnostiziert werden, sagt Malone Mukwende gegenüber dem Magazin "Spiegel" : "Eine Fehldiagnose kann tödliche Folgen haben." Gemeinsam mit zwei Co-Autoren schrieb er deshalb ein Handbuch, das man kostenlos im Netz bekommt. Es wurde in mehr als hundert Ländern zehntausendfach abgerufen.
Es gehe nicht primär nur um Rassismus, sondern um fehlende Vielfalt in der Bildung, sagt auch Golsabahi-Broclawski. "Es wird auch häufig politisch korrekt gesehen, dass man sich darum kümmern muss, aber nicht wirklich in der Tiefe verstanden, worum es geht."
Darum ist die erste Etappe ihrer Fortbildung die medizinische Vielfalt zu erkennen, wie etwa die unterschiedliche Schattierungen in der Dermatologie oder die unterschiedliche Verstoffwechselung in der Gastroenterologie. In der zweiten Etappe geht es um die Sensibilisierung für die eigene Wirklichkeit, um Gesprächsführung, darum was Norm ist und was nicht.
Warum das wichtig sei für eine diskriminierungsfreie Medizin? Golsabahi-Broclawski erklärt es folgendermaßen:
Ein guter Arzt zu sein, beginnt für sie deshalb erst einmal mit dem Hinterfragen eigener Sichtweisen: "Je mehr Sie über sich selbst lernen, die eigene Wirklichkeit hinterfragen, umso mehr erfahren Sie über andere Kulturen", sagt die Ärztin im Gespräch mit watson.
In letzter Konsequenz heißt das: "Das Handwerk des Arztes besteht darin, dass man unvoreingenommen seinem Gegenüber begegnet. Und unvoreingenommen, aber mit einem weiten, kosmopolitischen, medizinisch versierten Wissen. Anders geht es nicht."
Schließlich sei der Arzt eine Vertrauensperson, der Arzt sei der einzige Mensch, mit dem man über Tod, Sexualität und Tabus reden könne. "Und wenn ein Arzt nicht emanzipiert ist, ist der Patient der Vorurteilen des Arztes unterworfen."