Nach mehreren Jahren, unzähligen Deutsch-Vokabeln, viel Papierkram und schier ewigem Bangen, ob nicht doch noch etwas schiefgeht, war es 2022 so weit: Paulo Peru aus den Philippinen wurde in Deutschland offiziell als Pflegefachkraft anerkannt.
"Das kann ich nicht beschreiben. Es war wirklich eine große Erleichterung. Jetzt kann ich besser schlafen, weil ich nicht mehr daran denken muss, was noch passieren kann", sagt er im Gespräch mit watson. Wer nämlich einmal durch die Prüfung fällt, hat nur einen weiteren Versuch. Wenn es dann nicht klappt, war all die Zeit und Mühe umsonst.
Zeit und Mühe ist in diesem Zusammenhang definitiv nicht als Floskel zu verstehen. "Der bürokratische Aufwand ist einfach riesig. Gerade bei Visa-Verfahren und der Sprachausbildung sind so viele Stellen involviert und es braucht so viele Papiere, die bearbeitet, übersetzt und beglaubigt werden müssen", erklärt Isa Benzing gegenüber watson.
Sie hat vor rund fünf Jahren gemeinsam mit ihrer Schwester "Pisacare" gegründet, ein Unternehmen, das sich auf die Vermittlung von philippinischem Pflegepersonal nach Deutschland spezialisiert hat.
Obwohl der Bedarf an qualifizierten Pflegekräften enorm ist, haben nämlich viele Arbeitgeber in der Pflege keine Ressourcen, um solche aufwändigen Prozesse zu begleiten. Und genau da springt "Pisacare" ein.
Benzing und ihr Team greifen dabei auch den ausländischen Pflegekräften unter die Arme, weil sie auf sich allein gestellt schnell vom Bürokratiedschungel überfordert sind.
Diese Erfahrung hat auch John Philip Tapucar gemacht. "Eigentlich war die USA meine erste Wahl als Pflegender im Ausland zu arbeiten. Aber der Prozess dort war langsam, teuer und hatte viele Anforderungen", erklärt er gegenüber watson. Mit "Pisacare" hat er es wie Paulo Peru nach Deutschland geschafft und arbeitet seit diesem Jahr in einem Pflegeheim in Villingen-Schwenningen.
Nach der Ankunft in Deutschland seien vor allem die Sprachbarriere und Anpassung an die deutsche Kultur herausfordernd gewesen. Aber die Fachkräfte müssen sich auch an Unterschiede in der Pflege einstellen. Paulo Peru, der mittlerweile schon seit zwei Jahren in Deutschland arbeitet, erklärt im Gespräch mit watson:
Dort sei die Pflege eigentlich Sache der Angehörigen. Die würden selbst im Krankenhaus und über Nacht im Zimmer bei der kranken Person bleiben und sie pflegen. "Dass das in Deutschland anders ist, hat mich überrascht.“
Doch nicht nur die Umstellung im Job und Alltag beschäftigt die philippinischen Pflegekräfte. Leider erleben einige auch Rassismus an ihrem Arbeitsplatz.
Die Wirtschaftspsychologin Grace Lugert-Jose hat 2023 insgesamt 224 philippinische Pfleger:innen zu ihren Diskriminierungserfahrungen befragt und kam zu einem erschreckenden Ergebnis: 64 Prozent hätten bei ihrer Arbeit schon Rassismus oder eine andere Diskriminierungsform erlebt.
Davon kann auch John Philip Tapucar berichten. In seinem ersten Monat als Pflegekraft konnte er noch nicht so gut Deutsch sprechen. Eine Patientin, die ihn nicht gut verstand, bezeichnete ihn deshalb als dumm.
Andere Erfahrungen hat Paulo Peru gemacht: "Wir sind sehr vielfältig, also die Leute bei meiner Arbeit kommen aus verschiedenen Ländern. Ich habe beispielsweise Kollegen aus Ukraine, Indonesien oder Vietnam." Rassismus sei an seinem Arbeitsplatz kein großes Problem. "Wir sind Multi Kulti.“
Die nicht-repräsentative Umfrage von Lugert-Jose gibt trotzdem zu denken. Noch nicht einmal die Hälfte der befragten Pflegekräfte würde ihre Arbeit weiterempfehlen. Dabei kann es sich Deutschland eigentlich nicht erlauben, ausländische Pflegekräfte abzuschrecken.
Aktuell fehlen laut Deutschem Pflegerat nämlich über 100.000 qualifizierte Vollzeit-Pflegekräfte in Deutschland. Ohne den Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland wäre der Notstand noch gravierender. In einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) heißt es dazu:
Ohne den Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland wären also noch mehr Stellen in der Pflege unbesetzt. Im Juni 2023 kam bereits jede sechste Pflegekraft in Deutschland aus dem Ausland.
"Wir sind auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen", sagt auch Benzing. Das sei natürlich nicht die einzige Lösung, aber das Problem mit dem Pflegenotstand werde in Zukunft nun mal nicht kleiner. Das Statistische Bundesamt hat berechnet, dass in Deutschland bis 2049 zwischen 280.000 und 690.000 Pflegekräfte fehlen könnten.
Ein Gesetz, das diesen Fachkräftemangel (zumindest in Teilen) vorbeugen soll, ist das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG), das bereits 2020 in Kraft trat. Das soll qualifizierten Fachkräften aus dem EU-Ausland eigentlich den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern.
Ganz so leicht ist es in der Praxis dann aber oft nicht, wie Isa Benzing berichtet. "Pisacare" profitiere zwar vom beschleunigten Fachkräfteverfahren, bei dem gegen eine Gebühr von mehreren hundert Euro pro Bewerber:in beispielsweise Visa zügiger erteilt werden.
Aber: "Leider habe ich auch sehr viele negative Erfahrungen gemacht, also Fälle, in denen Fristen einfach nicht eingehalten worden sind. Das fragt man sich natürlich, warum zahle ich den Betrag, wenn ich die Leistung am Ende nicht bekomme?". Solche Verzögerungen bringe sie in eine "wahnsinnige Ohnmachtsposition".
Denn ohne Visa oder Anerkennung der notwendigen Berufsqualifikationen ist keine Einreise möglich. Die so dringend benötigten Pflegekräfte werden also von langwierigen bürokratischen Hürden aufgehalten.
Und viel mehr als Warten und immer wieder Nachhaken kann man in solch einer Situation nicht. Isa Benzing zeigt sich frustriert:
Aber anstatt nochmal aufzuräumen, hole man immer wieder neue Gesetze und Auflagen dazu und wisse am Ende nicht mehr, wo einem der Kopf stehe.
Deshalb appelliert sie an die Behörden: "Sprecht mit den Leuten in der Praxis, die tagtäglich mit den Strukturen arbeiten, was hilfreich wäre und was nicht." Trotz der bürokratiebedingten Frustration ist sich Benzing aber sicher, dass sie die richtige Berufswahl getroffen hat:
Für Paulo Peru hat sich der Aufwand allemal gelohnt: "Ich bin sehr zufrieden. Ich bekomme mehr Gehalt als in meinem Heimatland, ich wohne jetzt in meiner eigenen Wohnung. Zur Arbeit muss ich nur 15 Minuten laufen."
Auch die Work-Life-Balance sei besser: "In Deutschland habe ich 33 Urlaubstage, in meinem Heimatland waren es 20." Auf den Philippinen will er deshalb nicht mehr als Pfleger arbeiten. Stattdessen überlegt er, hier eine Weiterbildung zur Intensivpflegekraft zu machen. Dafür hat sich die jahrelange Hängepartie wohl gelohnt.