Wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland Opfer von Antisemitismus waren, haben wir darüber berichtet und wollten mit der jüdischen Community sprechen. Oft bekamen wir dabei zu hören: "Warum interessiert ihr euch immer nur für uns, wenn etwas passiert ist?" Das haben wir uns zu Herzen genommen und wollen deshalb genauer hinsehen. In mehreren Artikeln wollen wir uns beschäftigen mit der Frage: Wie sieht es aus, das junge, jüdische und auch politische Leben in Deutschland?
Geht es nach Keshet, einem Verein queerer Menschen in der jüdischen Gemeinschaft, so ist klar: Das Judentum ist lebendig und bunt.
Juden und Jüdinnen werden in der deutschen Gesellschaft wegen des Holocausts oft in einer Opferrolle dargestellt. Man verbindet sie mit religiösen Codes wie dem freitäglichen Schabbat, der Kippa oder den Gebetsriemen Tefillin. Doch wie viele Deutsche wissen wirklich etwas über das moderne jüdische Leben in Deutschland?
Dass dies problematisch sein kann, stellte schon Adorno fest: "Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden." Aus Unwissenheit entsteht Furcht, aus Furcht vor dem Unbekannten entsteht Hass.
Jüdinnen und Juden sind keine Opfer, sondern gestalten die Gesellschaft, früher wie heute, mit: im feministischen, studentischen, religiösen, politischen und queeren Bereich. Bekannte jüdische Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts wie Magnus Hirschfeld, Fritz Bauer, Jiří Mordechai Langer und Herschel Grynszpan waren queer.
Der 2018 gegründet Verein Keshet, hebräisch für Regenbogen, will diese Sichtbarkeit queer-jüdischer Menschen erreichen. Monty Ott, Keshet-Mitglied und Co-Buchautor von: "Wir lassen uns nicht unterkriegen: Junge, jüdische Politik in Deutschland", aus dem ersten Teil der Serie, führt dies gegenüber watson näher aus:
Der Paragraf 175 stellte in Deutschland noch bis 1994 Homosexualität unter Strafe.
Anfeindungen gegen queere und jüdische Menschen gibt es von beiden Seiten, erzählt Dimitri Bilyarchyk, der sich selbst Dima nennt. Er ist ebenfalls aktives Keshet-Mitglied im Event-Team und Start-up-Gründer.
Als Dima mit 22 nach Berlin kam, war er längst in seinem Umfeld geoutet, außer "innerhalb der jüdischen Community, in der ich aufgewachsen bin". Obwohl ihm diese sehr viel bedeutet.
Doch warum das? Wie in so vielen anderen Religionen finden sich auch in der Tora (identisch mit den christlichen fünf Büchern Mose) Abschnitte gegen Homosexualität: "Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel."
Dieser Satz werde zwar gerade im orthodoxen Judentum häufig wörtlich genommen, doch gebe es unterschiedliche Auslegungen. Im reformierten Judentums würden sogar gleichgeschlechtliche Ehen religiös durchgeführt. In der Tora gebe es außerdem Stellen, die queere Beziehungen andeuten: zwischen Mann und Mann bei David und Jonathan oder zwischen Frauen wie bei Ruth und Naomi.
Heute sagt Dima, er habe sich eher vor der "vermuteten" Einstellung der Leute innerhalb jüdischer Communitys, gefürchtet. Denn der Großteil sei geprägt durch eine Migrationsgeschichte aus der ehemaligen Sowjetunion, der Ukraine, Belarus und Russland, wo Homophobie weitverbreitet war und es teilweise noch ist.
Die Gründung des queer-jüdischen Vereins Keshet bezeichnet Dima als "großen Knall innerhalb der jüdischen Community", auch, weil bekannte Gesichter dafür einstanden. "Für mich war das ein sehr starker Leuchtturm-Effekt", sagt Dima. "Ich habe gesehen: Ich bin nicht alleine, da gibt es auch andere Menschen, die queer und jüdisch sind und beide Identitäten ausleben."
Als er ein Treffen von Keshet besuchte, ließ er sich auf einem Gruppenfoto für Social Media fotografieren. Diesen Moment bezeichnet er heute als sein "Coming out in der jüdischen Gemeinde" und einen wichtigen, persönlichen Schritt.:
Genau das ist das Ziel des Vereins Keshet: Er will queere Jüdinnen und Juden vernetzen, sichtbar machen und Safe Spaces für sie schaffen. Dafür werden queere Events an Schabbat, Seminare, Workshops, Feste zu den Feiertagen sowie Bildungs- und Kulturveranstaltungen organisiert. Auch die Teilnahme am Cristopher Street Day in Berlin gehört dazu.
Damit diese Events auch wirklich "Safe Spaces" sind, braucht es Sicherheitsmaßnahmen. Es werde niemals der Ort der Veranstaltung öffentlich gepostet, sondern immer nur nach persönlicher Anmeldung, bei der es einen Background Check gebe. "Wenn wir den Ort öffentlich angeben, dann müssen wir auch sicherstellen, dass es da Schutz gibt in Form von Polizeischutz oder privaten Einheiten", sagt Dima.
Auch beim CSD braucht Keshet Polizeischutz: Denn auch innerhalb der queeren Community gebe es Antisemitismus – meist mit Bezug auf Israel. "Queere Menschen werden leider überall und auch in Deutschland immer noch marginalisiert und fühlen sich dadurch überdurchschnittlich solidarisiert mit den ebenfalls marginalisierten Palästinenser:innen. Dadurch wiederum wird der Nahostkonflikt sehr stark vereinfacht und es (...) gibt teilweise auch eine Opfer-Täter-Umkehr."
Die Vorurteile betreffend den Nahost-Konflikt würden sich oft in antisemitische Stereotype übersetzen.
Sicherheitsmaßnahmen gibt es aber nicht nur in der queer-jüdischen Community, sondern diese seien "Alltag jeder jüdischen Person in Deutschland". Auch vor jeder jüdischen Schule stehe ein Polizeiwagen oder vor jüdischen Einrichtungen, zumindest an Feiertagen. "Das ist die Realität, die es in Deutschland leider immer noch, knapp 80 Jahre nach dem Krieg, gibt."
Eine andere Realität ist, dass es queere Menschen eben auch im Judentum gibt. Dimas Botschaft lautet daher: