Wenn sich Kinder und Jugendliche früher den Ranzen aufsetzten, machten sie sich vielleicht Sorgen, ob sie den Vokabeltest bestehen würden. Oder ob sie beim Sport wieder als Letzter auf der Bank sitzen müssten. Die Sorge, ob man sich bis zum Nachmittag mit einem potenziell sehr gefährlichen Virus angesteckt haben könnte, war kein Thema. Anders heute, im Februar 2022, zwei Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie.
In Deutschland haben Schülerinnen und Schüler genug von diesem täglichen Nervenkitzel und wehren sich öffentlich gegen das politische Credo, die Schulen um jeden Preis "offenzuhalten". Sie drohen sogar mit Streik. Der Grund: Getragen von Omikron, verbreitet sich Covid-19 derzeit ziemlich rasant in Deutschland, und zwar insbesondere an den Schulen.
Das ist schon allein deshalb kein Wunder, weil die Impfquote bei Kindern und Jugendlichen sehr gering ist: Von den 5- bis 17-Jährigen ist bislang nur jeder Dritte geimpft, wobei Teenager sehr viel häufiger grundimmunisiert sind (circa 60 Prozent) als 5 bis 11-Jährige (circa 10 Prozent). Zudem sind Schnelltests bei Omikron zum Teil unzuverlässig, PCR-Tests für Schüler kaum verfügbar und Luftfilter in Klassenzimmern immer noch unzureichend installiert.
Viele Schüler beklagen, dass Corona-Ausbrüche im Klassenzimmer zudem kaum mehr Konsequenzen haben. Das Gesundheitsamt kommt mit der Weiterverfolgung nicht hinterher, Quarantänen werden erst dann angeordnet, wenn die infektiöse Zeit längst vorbei ist und PCR-Tests werden nur noch in Einzelfällen angeboten – und dann müssen Schüler tagelang auf die Ergebnisse warten.
Ein Gefühl von Chaos und Resignation – das eint die meisten Berichte aus deutschen Schulen derzeit. Präsenzunterricht müsse aber trotz Omikron "absolute Priorität haben", sagte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) erst Anfang des Jahres bei einer Kultusministerkonferenz und bestätigte diesen Kurs erneut am Dienstag gegenüber Bild.de. Dort erwähnte Stark-Watzinger sogar, dass die vorübergehende Aussetzung desselben in Berlin, sie "überrascht" habe, da Präsenzpflicht auch "Bildungsgerechtigkeit" sei.
Zahlreiche Schüler und Eltern sehen das anders: Sie sprechen von "Durchseuchung" und fordern, dass Familien die Entscheidung selbst obliegen sollte, ob sie ihre Kinder ins Schulgebäude schicken oder digital unterrichten lassen. Die Präsenzpflicht weiter einzufordern, ist angesichts der enormen 7-Tage-Inzidenz unter den Schülern zumindest politisch gewagt: Denn tatsächlich beläuft sich der Mittelwert der Inzidenz in der Altersgruppe der 5- bis 19-Jährigen auf 2036 (RKI, Stand 27. Januar) – das ist mehr als doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung.
Zwar verlaufen die Viruserkrankungen bei jüngeren Menschen oft mild oder sogar asymptomatisch, inwiefern Long-Covid aber in ein paar Jahren für Genesene zu einem Problem werden könnte, ist unter Experten weiterhin umstritten.
Gerade Schüler mit Vorerkrankungen oder mit Angehörigen aus Risikogruppen würden aufgrund dieser Situation gern die Option haben, ins Homeschooling zu wechseln. Doch bislang gilt in den meisten Bundesländern eine strikte Präsenzpflicht.
"Die Politik propagiert, dass Schulen sicher sind. Doch wir erleben genau dort Infektionen. Dieser Widerspruch ist unheimlich frustrierend und belastend", sagt der Berliner Abiturient Anjo Genow (17) gegenüber watson.
Er gehört zu den Initiatoren eines bundesweiten Schülerprotestes unter dem Hashtag "WirWerdenLaut": Die Schüler haben zusammen einen Offenen Brief an die Politik verfasst, in dem sie fordern, die Schulen sicherer zu machen und die Präsenzpflicht vorläufig bundesweit auszusetzen. Passiert dies nicht, wollen sie streiken.
Die acht zentralen Forderungen der Schüler lauten:
Der Brief, der von 100 Schulsprecherinnen und Schulsprechern bundesweit unterzeichnet und am Mittwochmittag veröffentlicht wurde, ist auch als Petition online und wendet sich konkret an die Bildungsministerin, den Gesundheitsminister, die Präsidentin der Kultusministerkonferenz und die Regierungspräsidenten der Länder. "Wenn sie nicht auf unsere Forderungen eingehen, werden einige Schulen in Deutschland leer bleiben", kündigte Anjo an. Die Schüler wollen dann im Rahmen eines Protests zu Hause bleiben und den Präsenzunterricht verweigern, stattdessen an digitalem Unterricht teilnehmen.
Doch das eigentliche Ziel der Schüler sei ja nicht der Streik, sondern eine Lösung des Problems, wie Anjo gegenüber watson betont: "Es wäre schade, wenn es so weit kommen muss. Es ist aber auch schade, dass Kinder und Jugendliche sich selbst schützen müssen, weil die Politik es nicht tut. Und es ist schade, dass keiner mit uns spricht, dass der Diskurs um Bildungsfragen immer über statt mit uns geführt wird."
Die Schüler sind im Protest nicht allein. Auch ihre Lehrer berichten von zunehmend chaotischen Zuständen in den Bildungsstätten. Der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, sagte gegenüber watson: "Wir verstehen die Sorgen und Ängste zahlreicher Eltern, Schüler und Lehrkräfte. Sie erleben ja gerade, dass die Politik sie im Stich lässt und anstatt auf die Omikronwelle an Schulen mit zusätzlichen Gesundheitsschutzmaßnahmen zu reagieren, häufig kapituliert."
Auch er stellt fest: PCR-Tests an Schulen wären nicht priorisiert, Kontakte würden nicht mehr zurückverfolgt und Quarantänemaßnahmen nicht mehr ergriffen. Als "Kapitulationsmaßnahmen" bezeichnet es Meidinger und fordert angesichts der derzeitigen Infektionslage intensivere Hygienemaßnahmen, wie "zum Beispiel engmaschige tägliche Testung, eine qualifizierte Maskenpflicht, die Kohortierung von Lerngruppen, die schnelle Nachrüstung unversorgter Unterrichtsräume mit Raumluftfilteranlagen, die vorübergehende Aufhebung der Präsenzpflicht, bis hin zur Wiederherstellung des Mindestabstands."
Es sei "frustrierend", dass die Politik zwar immer betone, das Offenhalten der Schulen habe oberste Priorität, "aber wenn es um die Priorisierung von PCR-Tests geht, dann werden Schulen wieder einmal komplett vergessen", so der Gymnasiallehrer. "Angesichts der inzwischen teilweise astronomisch hohen Inzidenzen in der Altersgruppe der Schülerinnen und Schüler halten wir aber ein bloßes 'Augen zu und durch' für falsch und nicht verantwortbar."
Lieber zuhause zu bleiben, als die ganze Familie mit Covid-19 anzustecken, sei ein nachvollziehbares Anliegen. Meidinger: "Wenn unter solchen Umständen Schüler und Eltern eine Aufhebung der Präsenzpflicht verlangen, haben wir als Deutscher Lehrerverband da vollstes Verständnis dafür."
Auch viele Eltern fühlen sich inzwischen genötigt, die Stimme zu erheben. In vier deutschen Großstädten sind am Samstag (5. Februar) Kundgebungen von Eltern geplant, die unter dem Motto "Unsere Kinder, unsere Entscheidung" dazu auffordern wollen, die Präsenzpflicht aussetzen und Distanzlernen zu ermöglichen, solange die Infektionslage dramatisch ist.
Die Rufe nach mehr Schutz der Schüler werden also immer lauter – und das sowohl aus den Reihen der Lehrer, der Eltern und der Kinder selbst. Die Schülervertreter hoffen jetzt nur noch auf Eines: dass diese Rufe auch gehört werden.