Auf den Schock folgt das Ärgernis: Wer einen positiven Corona-Schnelltest hat, soll bisher laut den geltenden Regeln einen PCR-Test machen. Bei den derzeit bundesweit schwindelerregend hohen Inzidenzzahlen kann man jetzt entweder stundenlang vor den landeseigenen Testzentren und Arztpraxen warten – oder gleich einen PCR-Test auf eigene Kosten in anderen Teststationen machen. Klingt erst mal relativ simpel.
Doch was ist mit den Menschen, die keine Zeit haben, stundenlang in der Schlange zu stehen, sich aber auch keinen der PCR-Tests leisten können, die mindestens 40 Euro kosten?
Der Armutsforscher Professor Christoph Butterwegge von der Universität Köln setzt dieses Problem in einen größeren Kontext. Zwar wäre es für Menschen in Armut gut, wenn der Bund die Kosten für einen PCR-Test in allen Teststationen übernehmen würde – doch er ergänzt gegenüber watson: "Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die finanzielle Lage von Sozialleistungsempfängern und -empfängerinnen und Geringverdienern und -verdienerinnen zu verbessern."
Als Beispiele dafür nennt er die längst notwendige und derzeit diskutierte Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro sowie des Hartz-IV-Regelsatzes für Alleinstehende von 446 um drei Euro monatlich. Diese Aufstockung reiche jedoch in keinem Fall aus. Gerade angesichts der starken Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Strom sei ein Hartz-IV von mindestens 600 oder 650 Euro notwendig, um ein das Existenzminimum zu gewährleisten. "Denkbar wäre auch ein Corona-Zuschlag von monatlich wenigstens 100 Euro", sagt Butterwegge.
Die neue Bundesregierung will nun hunderttausende Kinder aus sozial schwachen Familien in den nächsten Wochen finanziell stärker unterstützen: Bis zu 25 Euro Sofortzuschlag sollen demnach Kinder aus Familien erhalten, die Hartz IV, Sozialhilfe oder einen Kinderzuschlag bekommen, erfuhr das Magazin "Business Insider" aus Kreisen der beteiligten Ministerien.
Schließlich sind gerade arme Menschen besonders hart von der Corona-Krise betroffen. Diese habe die soziale Ungleichheit verstärkt hat, bestätigt der Armutsforscher:
Butterwegge, der zum Thema Armut und Corona schreibt und forscht, beispielsweise in seinem Buch "Ungleichheit in der Klassengesellschaft", erklärt watson die Hintergründe: "Arme sind von der Pandemie selbst und von den krisenhaften Folgen der Infektionsschutzmaßnahmen hart getroffen worden, weil Geringverdiener und -verdienerinnen mit 60 Prozent, beziehungsweise 67 Prozent (mit Kindern) ihres Nettolohns nicht über die Runden kamen."
Darüber hinaus würden finanzschwache Menschen von den staatlichen Corona-Finanzhilfen benachteiligt: Als Beispiel nennt Butterwege die großen Konzerne, denen mit Rettungsschirmen in Milliardenhöhe geholfen wurden. Im Vergleich dazu hätte ein alleinstehender Hartz-IV-Bezieher erst im Mai 2021, über ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie, den Einmalbetrag von 150 Euro erhalten. "So hat die Bundesregierung ihren Teil dazu beigetragen, dass die soziale Ungleichheit während der Pandemie noch gewachsen ist", sagt der Armutsforscher.
Auch die Hartz-IV-Aktivistin und ehemalige Politikerin der Linkspartei Inge Hannemann kritisiert den schwierigen Zugang zu kostenlosen PCR-Tests: "Von 45 Euro müssen Sozialleistungsberechtigte eine Woche essen. Mehr geben die Regelleistungen nicht her. Da ist kein PCR-Test mehr möglich", sagt sie gegenüber watson.
Als ehemalige Mitarbeiterin eines Jobcenters kennt Inge Hannemann die Probleme der von Armut betroffenen sehr gut. Auch sie sagt, dass ein kostenloser PCR-Test diesen Menschen auch nicht groß helfen würde, denn die eigentlichen Probleme lägen woanders. Zum Beispiel "in der geringen Mobilität und zum Teil in der fehlenden Aufklärung, weil die Instrumente dazu fehlen", wie sie gegenüber watson sagt. Damit meint Hannemann das Thema Digitalisierung, denn ärmere Haushalte hätten oftmals keinen Computer oder Tablet, um sich Informationen zu beschaffen, beispielsweise wo man sich gratis testen lassen kann.
Ein weiteres Problem ist die bereits genannte Mobilität, die Menschen in Armut oft nicht haben. Die Hartz-IV-Kritikerin erklärt gegenüber watson:
Die Folge davon? "Salopp gesagt: Es wird einfach kein Test durchgeführt", fasst Hannemann die Aussagen der von Armut betroffene Menschen zusammen, die sie hört. Denn: "Man kann es sich schlichtweg nicht leisten." Dies ist nicht nur auf die finanziellen Aspekte bezogen, sondern auch auf die Ressource Zeit: "Wer im Niedriglohnsektor arbeitet, oftmals im Schichtdienst, ist froh, wenn er zu Hause ist, um sich auszuruhen. Wer zwei Jobs ausübt, braucht für den Zweitjob die Erholungsphasen."
Doch gerade Menschen mit niedrigem Einkommen befinden sich oft in prekären Arbeitsbereichen mit erhöhtem Infektionsrisiko und müssten sich eigentlich regelmäßig testen müssten – einmal, um sich selbst zu schützen und um die Infektionskette zu unterbrechen. Denn, "eine Reinigungskraft oder ein Produktionsmitarbeiter kann sich nicht ins Homeoffice retten", sagt Hannemann zu watson. Dazu kommt, dass ärmere Menschen auch oft erst sehr spät zum Arzt gingen. "Sie scheuen die Folgenkosten, wie Zuzahlungen für Medikamente oder die Fahrtkosten zum Arzt."
Deshalb plädiert Hannemann für mehr niedrigschwellige Angebote wie mobile Testzentren vor Ort. "Wir müssen Lebens- und Arbeitsbedingungen schaffen, die es Menschen ermöglichen, gesund zu bleiben."
watson hat bei den Gesundheitsministerien der 16 Bundesländer nachgefragt, was sie planen, um den Zugang zu PCR-Tests zu verbessern – und ob vorgesehen ist, privat bezahlte PCR-Tests besser einfacher erstatten zu lassen.
12 von 16 Bundesländern haben die Fragen beantwortet. Aus den Antworten geht hervor, dass bei der Knappheit von PCR-Tests nach offiziellen Angaben große regionale Unterschiede gibt. So erklären etwa die Gesundheitsministerien von Rheinland-Pfalz und Thüringen, es gebe "ausreichende" Testmöglichkeiten und Laborkapazitäten.
In den zwei größten Stadtstaaten klingt das anders: aus dem Berliner Senat heißt es, die Kapazitäten kämen "an ihre Grenzen", aus Hamburg, die Versorgungslage sei "angespannt". Ähnlich klingen die Antworten aus den zwei bevölkerungsreichsten Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Bayern: aus den Gesundheitsministerien in Düsseldorf und München heißt es, das Problem sei vor allem der Mangel an qualifiziertem Laborpersonal, um die Tests auszuwerten.
Aus mehreren Bundesländern heißt es indes, man plane, die Kapazitäten für PCR-Tests auszuweiten. Das schleswig-holsteinische Gesundheitsministerium antwortet, die Landkreise und kreisfreien Städte im Land planten, mehr private Teststationen zu beauftragen und die Kapazitäten in bestehenden Testzentren auszuweiten. In Rheinland-Pfalz steht nach Angaben des Ministeriums der Mangel an Laborpersonal einer Testkapazität-Ausweitung entgegen.
Mehrere Gesundheitsministerien verweisen aber auch auf eine ganz andere Strategie: nämlich, PCR-Tests deutlich seltener durchführen zu lassen. Am Montagabend meldeten mehrere Medien einen Vorstoß des Landes Berlin: Demnach sollen künftig nur noch positiv auf das Coronavirus Getestete mit Symptomen einen PCR-Test bekommen – und Ältere, Menschen mit Behinderung und Vorerkrankte.
Das Gesundheitsministerium in Bayern erwähnt gegenüber watson ausdrücklich, dass man – wie Berlin – vom Bund gefordert habe, ein "laborgestützter Antigentest" solle künftig zur Bestätigung einer Infektion ausreichen. Aus Berlin heißt es, eine solche Einschränkung von PCR-Tests würde "zu einer Erleichterung für viele Menschen führen", da künftig ein "positiver zertifizierter Schnelltest" ausreiche, "damit Betroffene ihre Rechte wahrnehmen können und beispielsweise eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erhalten".
Das zuständige Ministerium in Sachsen-Anhalt antwortet watson wörtlich: "PCR-Tests sollen nach Möglichkeit gar nicht angewandt werden."
Zur Erstattung von PCR-Tests verweisen die meisten der befragten Ministerien darauf, dass diese bereits jetzt erstattet würden, wenn die vom Bundesgesundheitsministerium genannten Voraussetzungen dafür erfüllt seien. Das Ministerium schreibt inzwischen selbst auf der eigenen Website, dass asymptomatisch Positive nur dann kostenlos PCR-getestet werden, wenn sie sie etwa im Gesundheitswesen oder im Kontakt mit anderen vulnerablen Personen arbeiten.
Andere Ministerien (darunter das hessische Gesundheitsministerium) verweisen gegenüber watson darauf, dass etwa für die Entlassung aus der Isolation oder Quarantäne ein negativer Schnelltest ausreichend sei.
Ein Problem bleibt bei all dem ungelöst: Antigen-Schnelltests sind deutlich weniger präzise als laborgestützte PCR-Tests. Schnelltests liefern vergleichsweise häufig falsche Ergebnisse – und erkennen Infektionen nur bei einer relativ hohen Viruslast. Das heißt: Wer sich private, aus eigener Tasche gezahlte PCR-Tests nicht leisten kann, wird in den kommenden Wochen häufiger weniger zuverlässige Ergebnisse über eine mögliche eigene Ansteckung erhalten als Menschen, die das nötige Geld haben.
Immerhin in einem der zwölf Gesundheitsministerien, die watson geantwortet haben, gibt es dafür offensichtlich ein Problembewusstsein. Aus dem Ministerium in Rheinland-Pfalz heißt es: "Ein PCR-Test ist zwar genauer, die Laborkapazitäten aber limitiert." Das Ministerium in Mainz verweist auch auf eine mögliche Lösung, durch die künftig vielleicht wieder mehr PCR-Tests verfügbar sein könnten: "In diesem Zusammenhang wird der mittlerweile gemäß Testverordnung geförderte Einsatz der PCR-Tischgeräte als flächendeckende und bedeutsam schnellere Analysemethode erwartet."
Die Gesundheitsministerien in Baden-Württemberg, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen ließen die watson-Anfrage zu PCR-Tests unbeantwortet.