Viele Ukrainer mussten mit dem Kriegsausbruch nicht nur ihren Heimatboden, sondern auch ihren Alltag und ihre Zukunftspläne zurücklassen – so wie zum Beispiel ihren angesteuerten Schulabschluss. Wie der Bildungsweg der geflüchteten Kinder und Jugendlichen nun aber weiter aussehen soll, ist noch umstritten.
Insgesamt 38.237 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine werden inzwischen an deutschen Schulen unterrichtet, meldet zumindest die Kultusministerkonferenz (Stand 03.04). Eine neue Taskforce ("Task Force Ukraine") mit Vertretern aller Bundesländer ist damit beauftragt worden, die Koordinierung geflüchteter Schüler und Lehrkräfte anzugehen und sich Lösungen für ihren weiteren Unterricht zu überlegen, wie Bildungsministerin Karin Prien bei der Kultusministerkonferenz am 18. März verkündete.
Die CDU-Politikerin sagte dazu, die Taskforce habe "unter anderem Fragen einer möglichen Beschäftigung von ukrainischen Lehrkräften oder Erzieherinnen und Erzieher und einer Fortsetzung der Beschulung nach ukrainischem System, zum Beispiel durch Online-Plattformen angesprochen." Außerdem müsse sie über offene Rechtsfragen beraten, die Bereitstellung von Schulsozialarbeitern und -psychologen und die Nutzung digitaler Schulbücher und Unterrichtsmaterialien.
Doch während die Mitglieder des deutschen Bildungssystems noch überlegen, haben einige Geflüchtete bereits eine eigene Lösung gefunden: Sie nutzen ihr Homeschooling-System.
Zahlreiche Menschen aus Deutschland berichten auf Twitter, dass geflüchtete ukrainische Lehrer schon vor Wochen damit begonnen haben, von ihren Aufnahmeorten aus wieder zu unterrichten. Auch die Schüler selbst säßen früh morgens schon am Rechner, um zusammen mit ihren Mitschülern, die nun zum Teil über die ganze Welt zerstreut sind, am Unterricht teilzunehmen. Selbst innerhalb der Ukraine wird offensichtlich mitten im Kriegszustand gelernt, sogar von Schutzräumen aus, wie eine Anwohnerin auf Twitter berichtet – diese seien mit W-Lan ausgestattet.
Hier in Deutschland, wo der Online-Unterricht während der Pandemie oft als mangelhaft beschrieben wurde, ist das Erstaunen darüber, wie gut das funktioniert, groß. Die weitreichende Digitalisierung des ukrainischen Schulsystems unter Corona kommt den geflüchteten Schülern nun zugute – sie können weiter nach ukrainischem Lehrplan unterrichtet werden, in ihrer Muttersprache. Nötig ist dafür nur ein Laptop und Internetanschluss.
Stephan Bayer ist der Gründer der Online-Lernhilfe sofatutor und hat, zusammen mit einem Team von Unternehmern, App-Entwicklern und Bildungswissenschaftlern, nach dem Kriegsausbruch kostenlos ukrainische Online-Lernplattformen aufgelistet, die für geflüchtete Schüler, Lehrkräfte, aber auch deutsche Pädagogen beim Unterricht hilfreich sein können.
Das umfangreiche Angebot, welches er vorfand, bestätigt den Vorsprung des ukrainischen Homeschoolings. "Was digitale Bildung angeht, kann sich Deutschland einiges von der Ukraine abschauen", so Bayer im Interview mit watson.
Diese Angebote seien gerade jetzt zu Kriegszeiten wichtig, glaubt er, um die Fortsetzung des Unterrichts nicht unnötig zu erschweren: "Für ukrainische Schulkinder, insbesondere für die, die gerade erst mit der Schule begonnen haben und denen, die kurz vor dem Schulabschluss stehen, ist die Kontinuität der Bildungsprozesse sehr wichtig."
Selbst Schulabschlüsse können derzeit online gemacht werden. Die ukrainische Schule und auch die Optima Distance School verfügt über entsprechende Lizenzen, die es erlauben, Prüfungen digital zu benoten und gültige Zeugnisse auszustellen. Ein physischer Besuch an einer Schule am Fluchtort ist also theoretisch gar nicht nötig.
Willkommensklassen oder Integrationsklassen, wie sie für Flüchtlingskinder in der Vergangenheit angeboten wurden und derzeit in Deutschland partiell wieder umgesetzt werden, lehnt die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka ohnehin ab. Sie fordert, dass man die ukrainischen Flüchtlingskinder weiter nach dem ukrainischen Lehrplan unterrichtet.
Vor der Kultusministerkonferenz in Lübeck erklärte sie ihre Haltung mit zwei Gründen: Zum Einen hoffe man, dass die Ukrainer bald in ihre Heimat zurück könnten, in "spätestens einem Jahr". Zweitens gehe es auch um die "Aufrechterhaltung der ukrainischen Identität" – Putin hätte das Ziel, die Nation auszulöschen. Gerade deshalb sei es wichtig, weiter an der ukrainischen Sprache und Kultur festzuhalten.
Ein reines Homeschooling, selbst wenn es technisch noch so ausgereift ist, bedeutet zwar, Kontakt zur Heimat zu halten und zu allem, was man kannte. Es bedeutet allerdings auch: Geflüchtete Kinder kommen nicht richtig in Deutschland an. Sie lernen die Sprache nicht und können weniger am sozialen Leben mit Gleichaltrigen in ihrer neuen Lebensumgebung reilhaben.
Welchen Gewinn das aber haben kann, konnte Heike N. aus Rheinland-Pfalz beobachten. Die Grundschullehrerin hatte zwei Wochen lang ein achtjähriges Mädchen, Silvia, in ihrer Klasse, die kurz zuvor aus der Ukraine geflüchtet war.
Im Gespräch mit watson berichtet sie: "Wir hatten das Gefühl, es tat Silvia gut, unter anderen Kindern zu sein und einen Tagesrhythmus zu haben. Sie war ein sehr aufgewecktes Kind, es gefiel ihr, unter Gleichaltrigen herumzutoben."
Die Aufnahme des Flüchtlingsmädchens sei eher unbürokratisch vonstatten gegangen – sie lief einfach mit dem Nachbarskind mit, neben dem sie Quartier gefunden hatte. "Wir haben das einfach gemacht", so Heike. "Sie hat dem Unterricht beigewohnt und ein paar Buchstaben in Erstklässlerbüchern gelernt. Wenn sie eine Frage hatte, kam sie zu mir und ich habe dann mit Google Translator auf dem Smartphone übersetzt."
Langfristig und für mehrere Schüler sei das natürlich keine Lösung, gibt die Pädagogin aber zu bedenken. "Ich vermute, dass auf uns Schulen noch ein anderes Programm zukommt. Wir haben für die Förderung dieser Schüler als Lehrer neben dem regulären Unterricht eigentlich gar keine Zeit. Wir haben ja bereits mit Personalmangel zu kämpfen."
Gezielter Sprachunterricht, mehr Sozialarbeiter und ein allgemeingültiger Lehrplan, um die ukrainischen Schüler ins deutsche Schulwesen zu integrieren, werde in Zukunft dringend benötigt, glaubt sie. Besonders in größeren Schulen.
Silvia selbst ist inzwischen weitergereist, sie lebt jetzt in Frankreich. "Aber zu uns kommen in den nächsten Wochen zwei weitere Schüler aus der Ukraine. Mal schauen, wie das dann läuft", so die Lehrerin.
In vielen deutschen Bundesländern wurden – entgegen dem Wunsch der Generalkonsulin – bereits Willkommensklassen und provisorische Einstiegsklassen speziell für ukrainische Schüler eingerichtet. Das hält auch Stephan Bayer für den richtigen Weg: "Da nicht klar ist, wie lange der Krieg noch andauert, ist es wichtig und richtig, die Kinder in das deutsche Bildungssystem zu integrieren", glaubt er.
Ein Hybridmodell könnte die vorübergehende Lösung sein. Denn die bereits existierenden Online-Tools könnten auch deutsche Kollegen entlasten. "So haben Lehrkräfte zum Beispiel die Chance, auf ukrainische Lernmaterialien wie Arbeitsblätter und Lehrbücher zuzugreifen, sodass sie diese nicht extra anfertigen müssen", sagt Bayer. "Sollten die Kinder aufgrund der Sprachbarriere Verständnisprobleme hinsichtlich der Lerninhalte haben, können auch Lernvideos in ukrainischer Sprache eingesetzt werden."
Die Frage um die Beschulung ukrainischer Kinder scheint auch deshalb so kompliziert, weil sie eine schwerwiegende Folgefrage aufwirft: Wo wird ihre Zukunft stattfinden? Werden sie in Deutschland bleiben oder weiterziehen wie Silvia? Können sie jemals in ihre Heimat zurück?
Hoffnung gegen Resignation, das Festhalten an Altem oder der unfreiwillige Start ins Neue: Die Zerrissenheit zieht sich durch das Bildungsthema. Vorerst bleibt den Schülern wohl nichts anderes übrig, als auszuhalten, dass sie seit dem Krieg nicht mehr nur ein Leben zwischen zwei Welten führen müssen – sondern auch zwischen zwei Schulsystemen.