Wenn ein Mediziner den Begriff "Triage" in den Mund nimmt, sorgt das spätestens seit der Corona-Pandemie für großes Aufsehen. Wenn alle Intensivbetten belegt sind und es nicht genügend Beatmungsplätze gibt, wer wird dann behandelt und wer nicht? Wegen der rasanten Ausbreitung des Corona-Virus standen und stehen Ärzte und Pflegekräfte weltweit vor diesem moralischen Dilemma. Umso größer war die Aufregung, als der Begriff Anfang dieser Woche im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit von jungen Menschen fiel.
"Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind voll, dort findet eine Triage statt", sagte Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), gegenüber der "Rheinischen Post". "Wer nicht suizidgefährdet ist und 'nur' eine Depression hat, wird gar nicht mehr aufgenommen." Dass die Pandemie auch junge Menschen psychisch stark belastet, war schon länger bekannt. Doch dass ein Teil von ihnen aktuell nicht mehr behandelt werden kann, weil die Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie angeblich heillos überlaufen sind, war für viele schockierend.
Tatsächlich geht der Begriff "Triage" aber vielen Kinder- und Jugendpsychiatern zu weit. "In der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKE sehen wir bislang keinen Boom, den wir nicht noch bewältigen könnten", sagt Carola Bindt, Kommissarische Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Aber die Uniklinik habe natürlich eine hohe Schwelle. Wer dorthin komme, war bereits Patient oder dem gehe es bereits sehr schlecht, so Bindt. "Wir müssen daher pandemiebedingt niemanden abweisen, wobei die Behandlungskapazitäten natürlich immer begrenzt sind und derzeit voll ausgeschöpft werden."
Auch Patrick Nonell, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter am Klinikum Nürnberg, weist die Behauptung zurück, dass die Kliniken für Kinder und Jugendpsychiatrie in Deutschland so überlaufen seien, dass sie behandlungsbedürftige Menschen nicht aufnehmen könnten. "Das stimmt nicht. Insbesondere für unsere Nürnberger Klinik kann ich das nicht bestätigen" sagt Nonell. "Ich sehe in der Äußerung des Verbands eine Skandalisierung, die nicht sachlich ist und niemandem hilft."
Die Aussage des BVKJ-Sprechers erwecke den Anschein, dass man suizidal sein müsse, um eine psychiatrische Behandlung zu bekommen. "Suizidalität ist ein wichtiges Aufnahmekriterium, aber nicht das einzige. Wir beurteilen immer aus der Zusammenschau aller unserer Erkenntnisse heraus, welcher Behandlungsmodus einem Kind am besten helfen kann, wenn ein kinderpsychiatrisches Krankheitsbild vorliegt", betont Nonell. Das müsse stets individuell bewertet und mit Fachlichkeit eingeschätzt werden.
Von "unwahren Behauptungen" spricht die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) in einer Pressemitteilung. Es reiche aus, wenn ein Verbandsvertreter der Kinder und Jugendärzte mit dem Ziel einer schnelleren Schulöffnung den Begriff der "Triage" verwende, damit die Presse bundesweit darüber berichte. "Der Vergleich mit Corona-Intensivstationen – auch dort stand Triage kurzfristig im Raum – scheint gewollt: 'Triage' findet in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht statt!"
Zwar habe die Corona-Krise psychische Belastungen und soziale Benachteiligungen bei Kindern verstärkt. Aber: "Wir haben als wissenschaftliche Fachgesellschaft mehrfach verdeutlicht, dass gerade Kinder mit Vorbelastungen und solche, die sowieso schon benachteiligt sind, Symptome entwickeln. Symptome bedeuten aber noch keine manifesten Erkrankungen." Vielfach habe man es mit normalen Reaktionen von Kindern auf unnormale Bedingungen zu tun.
Diese Ansicht teilt auch der Nürnberger Chefarzt Nonell:
Insgesamt stellt die Corona-Pandemie aber eine große Belastung für junge Menschen dar. Die COPSY-Studie (Corona und Psyche) der Universität Hamburg untersucht die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die seelische Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen. Im Februar dieses Jahres stellten die Wissenschaftler die Ergebnisse aus der zweiten Befragungsrunde vor. Demnach habe sich die Lebensqualität und psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen weiter verschlechtert. Fast jedes dritte Kind leide unter psychischen Auffälligkeiten. Die Heranwachsenden zeigten zudem häufiger depressive Symptome sowie psychosomatische Beschwerden, wie Kopf- und Bauchschmerzen.
Auch hinsichtlich des Gesundheitsverhaltens sehen die Forscher negative Auswirkungen der Corona-Pandemie: Die Kinder und Jugendlichen würden noch mehr Zeit vor Handy, Tablet oder Spielekonsole verbringen als noch bei der ersten Befragung im Frühsommer. Außerdem würden sie sich weiterhin ungesund ernähren und viele Süßigkeiten essen. Gleichzeitig machen zehn Mal mehr Kinder überhaupt keinen Sport im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie. Erneut seien vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund betroffen gewesen.
Auch in der Nürnberger Klinik macht sich die stärkere psychische Belastung für junge Menschen bemerkbar. Nach der ersten Welle der Corona-Pandemie habe man auf der psychosomatischen Station etwa doppelt so viele Patientinnen mit einer Anorexie als zuvor, berichtet Nonell. Eine Erklärungsmöglichkeit für diese Zunahme könne die zusätzliche Belastung durch die Corona-Pandemie sein. Das erklärt er folgendermaßen:
Es sei aber nicht so, dass wegen der Corona-Pandemie auf einen Schlag viele Kinder an Anorexie erkranken, die vorher vollkommen gesund waren. "Diese Entwicklung, die wir in Nürnberg beobachtet haben, betrifft vor allem Kinder und Jugendliche, die vorher schon Anzeichen für eine Anorexie hatten", sagt Nonell.
Mittlerweile hat auch die Politik reagiert: Anfang Mai hat die Bundesregierung das "Aktionsprogramm Aufholen nach Corona" vorgestellt. Demnach soll rund eine Milliarde Euro in Förderprogramme für Schüler mit Lernrückständen investiert werden. Eine weitere Milliarde soll in soziale Projekte fließen, um die psychischen Folgen der Krise abzufedern. Wenn es nach Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) geht, soll außerdem allen 12- bis 18-Jährigen ein Impfangebot bis Ende der Sommerferien gemacht werden.
"Ich blicke optimistisch auf die kommenden Monate", sagt Nonell. "Viele Kinder und Jugendliche wissen sehr gut, wie sie mit der Situation in der Pandemie umgehen müssen, um sie gut zu bewältigen." Außerdem seien sie oftmals sehr anpassungsfähig und hätten in den vergangenen Monaten extrem viel dazu gelernt – vor allem in Hinblick auf digitale Kompetenzen.
Trotzdem wünscht Nonell sich mehr Unterstützung für junge Menschen. "Es wäre schön, wenn es jetzt ein Generationenbündnis gebe. Denn wenn es für vollständig Geimpfte die Möglichkeit gibt, wieder leichter am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, dann ist das ja auch deshalb möglich, weil die Kinder und Jugendlichen dazu beigetragen haben."