Freunde nur noch über Zoom sehen, seltener im Austausch mit Lehrern und anderen Bezugspersonen stehen und das Gefühl haben, den Anschluss zu verlieren – das alles war und ist teils immer noch die Realität vieler junger Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie. Die psychische Belastung für Kinder und Jugendliche war dadurch ausgesprochen hoch, wie Kai Lanz berichtet. Er ist einer der Gründer von krisenchat.de, einem Online-Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche, die akut mit psycho-sozialen Problemen zu kämpfen haben.
Rund um die Uhr steht ein ehrenamtliches Team aus den Bereichen Psychologie, Psychotherapie und Sozialpädagogik bereit, um junge Menschen per Chat bei ihren Sorgen und Ängsten zu beraten. Mittlerweile gibt es den Krisenchat seit einem Jahr und in diesem Zeitraum ist die Plattform nach eigenen Angaben zum erfolgreichsten deutschen Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche bis 25 Jahren angewachsen.
Der 19-jährige Lanz spricht im Interview mit watson über die beunruhigenden Entwicklungen der psychischen Gesundheit junger Menschen in den vergangenen Monaten, wie Tiktok dabei helfen kann, die Dunkelziffer zu drücken, und warum er eine Zusammenarbeit mit dem Familienministerium zum jetzigen Zeitpunkt ausschließt.
watson: Im Mai 2020 wurde der Krisenchat ins Leben gerufen. Ein Jahr später habt ihr über 25.000 Beratungen durchgeführt und euer Team ist auf rund 300 ehrenamtliche Mitarbeiter angewachsen. Mit welchem Gefühl blickst du auf ein Jahr Krisenchat zurück?
Kai Lanz: Ich blicke mit einem total positiven Gefühl auf die vergangenen Monate. Ich glaube, wir konnten die Corona-Zeit gut nutzen, um Kindern und Jugendlichen in Deutschland zu helfen. Wenn man sich das einmal vorstellt – 25.000 Beratungen innerhalb eines Jahres – das ist eine enorme Zahl. Und es freut uns natürlich, wenn wir dann noch positives Feedback bekommen und uns manche Betroffenen mitteilen, dass wir ihnen grundlegend geholfen haben. Außerdem war es toll, zu sehen, dass so viele Menschen an diese Vision glauben und als Ehrenamtliche mit dabei sind.
Diese ehrenamtlichen Helfer waren in den vergangenen zwölf Monaten für viele junge Menschen da, die wegen der Pandemie eine teils noch stärkere psychische Belastung erfahren haben als zuvor. Mit welchen Problemen haben sich Kinder und Jugendliche bei euch gemeldet?
Wir haben die ganze Bandbreite an Problemen gesehen, aber gerade Anfang des Jahres haben die wirklich harten Fälle zugenommen. Suizidgedanken, selbstverletzendes Verhalten oder sexuelle und häusliche Gewalt waren Themen, mit denen junge Menschen verstärkt zu uns gekommen sind.
Sind das Entwicklungen, die dich in den vergangenen Monaten besonders stark beunruhigt haben?
Ja, auf jeden Fall. Das sind so viele junge Menschen mit Suizidgedanken, die kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Je nach Statistik ist Suizid die zweit- oder dritthäufigste Todesursache unter jungen Menschen in Deutschland. Darüber spricht aber kaum jemand. Auch häusliche und sexuelle Gewalt haben während der Corona-Pandemie zugenommen. Und dabei darf man die langfristigen Auswirkungen nicht vergessen. Denn Kinder und Jugendliche werden traumatisiert und das kann sich über Jahrzehnte negativ auf ihr Leben auswirken.
Auch beim selbstverletzenden Verhalten habt ihr einen deutlichen Anstieg beobachtet: Seit September ist der Anteil dieser Fälle von fünf auf 15 Prozent gestiegen. Welche Ursache siehst du für diese Entwicklung?
Wir kennen nicht den einen Grund, warum das so ist. Der Lockdown wird aber sicherlich eine Rolle spielen. Selbstverletzendes Verhalten tritt zum Beispiel häufiger bei Personen auf, die selbst häusliche Gewalt erlebt haben. Durch die Pandemie und den Lockdown steigt natürlich das Stresslevel und dann tut sich die Person etwas an, vielleicht hat sie einen Rückfall. Das hat einfach etwas mit dieser komplexen Stresssituation zu tun, in der sich junge Leute und alle anderen zurzeit befinden.
Was könnt ihr konkret in so einem Fall tun, wenn ein Kind oder Jugendlicher von selbstverletzendem Verhalten berichtet?
Die Prozesse sind immer sehr individuell. Aber wir versuchen natürlich zu verstehen, was eigentlich dazu führt, dass sich die Person selbst verletzt. Die meisten Leute machen das entweder, weil sie Druck ablassen können oder weil sie sonst einfach nichts mehr fühlen. Und in diesem Moment können wir der Person helfen, sich beispielsweise auf die eigenen Sinne zu konzentrieren. Oft sind es sehr komplexe Ursachen und dann versuchen wir, langfristig zum Beispiel einen Therapieplatz zu finden.
Der Krisenchat ist also eine erste Anlaufstelle und keine langfristige Therapiemöglichkeit?
Genau, wir agieren sehr häufig als Vermittler. Wir sind in der Situation für die Kinder und Jugendlichen da, haben ein offenes Ohr und helfen mit Tipps. Durch die Niedrigschwelligkeit unseres Angebots gehört der Großteil der Personen zur Dunkelziffer. Die haben noch nie über das Problem gesprochen und sich noch nie Hilfe gesucht. Genau da können wir als Schnittstelle dienen und auf andere Hilfsangeboten verweisen.
Könnten lokale Hilfsangebote als Unterstützung beziehungsweise Ergänzung für den Krisenchat dienen?
Wir verweisen auf jeden Fall auf lokale Hilfsangebote. Man kann sich das so vorstellen, dass wir ein riesiges Glossar haben mit lokalen Angeboten, aber auch Spezialberatungsstellen. Wenn wir wissen, aus welchem Bundesland oder welcher Stadt die Person kommt, können wir Angebote vor Ort empfehlen. Teilweise empfehlen lokale Akteure den Krisenchat als Hilfsangebot und genauso stellen wir uns das eigentlich auch vor: Dass sich die verschiedenen Hilfsangebote ergänzen.
An dieser Stelle könnte der Krisenchat die Dunkelziffer also drücken?
Das ist auf jeden Fall unser Ziel. Es ist uns sehr wichtig, die Menschen zu erreichen, die bisher mit noch niemandem gesprochen haben, damit sie ins Versorgungssystem kommen können, wenn sie es möchten. Die Vision ist, dass es in ein paar Jahren keine Dunkelziffer mehr gibt, weil alle Fälle bekannt sind und alle frei darüber sprechen können.
Wie erreicht ihr diese jungen Menschen, die eigentlich zur Dunkelziffer zählen?
Wenn es um soziale Medien geht, sind Tiktok und Instagram Plattformen, über die viele Menschen zu uns kommen. Bei Tiktok sehen wir, dass es sehr explosiv ist. Es ist zwar nicht so, dass jeden Tag hunderte Leute darüber zu uns kommen, aber hin und wieder gibt es solche Momente, wenn zum Beispiel ein Video viral geht. Und das ist natürlich im Management der Nachfrage nicht so einfach. Aber es berichten auch immer mehr Menschen, dass sie uns über Freunde und Bekannte kennen.
Inwieweit seid ihr dadurch selbst in den vergangenen Monaten an eine Belastungsgrenze gekommen?
Im Januar und Februar war der Bedarf äußerst hoch und dementsprechend auch unsere Belastung. Ich glaube aber, wir haben es in den vergangenen zwei, drei Monaten geschafft, zumindest so Kapazitäten aufzubauen, dass wir nachts wieder ruhig schlafen können. Das hat uns aber auch gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir nachhaltig wachsen. Es bringt nämlich nichts, wenn wir beispielsweise zwei, drei Wochen überdurchschnittlich viele Chats machen können, aber danach all unsere Krisenberater ausgebrannt sind und deswegen abspringen. Wir wollen das in einem Tempo machen, bei dem die Ehrenamtlichen langfristig dabei sind.
Im Februar warst du unter anderem bei "Markus Lanz" und hast davon berichtet, dass ihr wegen des rasanten Wachstums dringend finanzielle Unterstützung benötigt. Hat sich seitdem etwas getan?
Wir sind deutlich weitergekommen. Wir haben einige tolle Partner gefunden, die an unsere Vision glauben, und gleichzeitig auch viele Einzelpersonen, die durch private Spenden geholfen haben. Je mehr Ressourcen wir haben, desto besser können wir den Menschen helfen. Unsere Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen, aber wir sind momentan so aufgestellt, dass wir auf jeden Fall weitermachen können. Auf der Suche nach neuen Partnern sind wir weiterhin.
Bei dem TV-Auftritt war auch eine mögliche Unterstützung des Familienministeriums Gesprächsthema. Franziska Giffeys Behörde hatte vor allem Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes geäußert, weil ihr die Chats über Whatsapp abwickelt. Wie ist der aktuelle Stand?
Mit dem Familienministerium haben wir in naher Zukunft keine gemeinsamen Pläne. Wir glauben, es lohnt sich mehr, die Zeit in die Menschen zu investieren, die wirklich an die Vision glauben.
Mittlerweile sinken die Infektionszahlen wieder, gleichzeitig nimmt die Impf-Kampagne immer weiter an Fahrt auf. Glaubst du, dass sich die Lage in den kommenden Monaten wieder langsam entspannen wird?
Das hoffe ich auf jeden Fall. Ich glaube aber auch, wir sollten sehr vorsichtig sein und nicht denken, nur weil der Lockdown vorbei und Corona weg ist, dass dann auch die Probleme verschwinden. Die durch Corona bedingten Probleme können schließlich langfristige Folgen haben und eine Person, die ein psychisches Problem hatte, wird nicht morgen aufstehen und sagen 'Alles vorbei, alles super'. Außerdem gibt es Probleme unabhängig von Corona.
Welche Probleme meinst du?
Ich glaube, dass generell wichtig ist, wie über die eigene mentale Gesundheit gesprochen wird. Es muss entstigmatisiert werden, damit Menschen offen sagen können, wenn es ihnen auch mal nicht so gut geht und nicht immer alles nach außen super erscheinen muss. Das hätte eine Auswirkung auf ganz, ganz viele Dinge. Vielleicht würden sich dann auch mehr Menschen anderen im privaten Umfeld anvertrauen. Das gilt besonders für männliche Personen.
Warum ausgerechnet für sie?
Die Suizidrate unter Männern ist dreimal so hoch wie die unter Frauen. Und ich glaube, das ist auch ein großes gesellschaftliches Problem. Vieles ist immer noch stigmatisiert, was dazu führt, dass die Männer nicht über ihre eigenen Probleme sprechen wollen. Und viele denken, dass sie mit allem allein fertig werden müssen. Aber das ist nicht so. Und deswegen sollte man besonders für diese Menschen da sein.
Welche Zukunftspläne gibt es für den Krisenchat? Wo siehst du eure Plattform in einem Jahr?
In einem Jahr wollen wir unsere Kapazitäten sehr viel weiter ausgebaut haben. Das große Ziel beziehungsweise der Bedarf, den wir errechnet haben, ist ungefähr hundert bis fünfhundert Mal so groß, wie das, was wir bisher abdecken können. Am Ende wollen wir in der Lage sein, 500.000 bis 2,5 Millionen Beratungen im Monat durchzuführen. Außerdem wollen wir uns in den kommenden Monaten in einem Forschungsprojekt nochmal genauer anschauen, wie der Übergang in die übrige Versorgungslandschaft aussehen kann. Es geht vor allem darum, die Hemmschwelle zwischen den unterschiedlichen Angeboten so niedrig wie möglich zu halten. Denn es wäre natürlich blöd, wenn sich die Leute bei uns melden, aber sich nicht trauen würden, auch danach Hilfe zu suchen.
Und gibt es Pläne abseits des Ehrenamts bezahlte Stellen aufzubauen?
Das wäre natürlich das Tollste, wenn die Leute dafür bezahlt werden würden. Wir haben schon ein operatives Team von Psychologen und Psychotherapeuten. Eigentlich bin ich auch der Meinung, dass wir uns als Gesellschaft so einen Job leisten sollten. Leider ist es zurzeit, wie es scheint, noch utopisch. Deswegen müssen wir erst mal mit dem arbeiten, was wir haben. Aber es wäre natürlich toll, wenn Leute, die diese wichtige Arbeit machen, auch richtig dafür bezahlt werden.