Sinkende Infektionszahlen, wiedereröffnete Biergärten, Café-Terrassen, die ihre Gäste zum Verweilen einladen: Nach einem mehrmonatigen pandemischen Schlaf scheint das Land langsam wieder zu erwachen. Das Land atmet auf: Die dritte Corona-Welle scheint gebrochen, selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte dies kürzlich.
Während allerdings die ersten Menschen bei frühlingshaftem Wetter ihren Aperol Spritz im Außenbereich der Bars genießen, versucht Ricardo Lange, die Lage auf den Corona-Intensivstationen zu bewältigen. Der Pfleger fiel jüngst mit seinen Medienauftritten auf, bei denen er ungeschönt über seine Arbeit berichtete:
In der Bundespressekonferenz saß er gemeinsam mit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und erzählte, wie es sich anfühlt, wenn Covid-19-Patienten von einem Moment auf den nächsten sterben. Bei "Markus Lanz" ärgerte er sich darüber, dass mit Schauspielern wie Jan-Josef Liefers, der mit der Aktion #allesdichtmachen für eine Kontroverse sorgte, eher das Gespräch gesucht werde, als mit Personen aus der Pflege.
Bei watson spricht Lange über die Verantwortung, die überlastete Pflegekräfte tragen, welcher Moment während der Pandemie für ihn der schlimmste war und warum die Pflege anfangen muss, sich selbst wertzuschätzen.
watson: In Berlin, wie an vielen anderen Orten auch, soll über Pfingsten die Außengastronomie öffnen. Wie geht es Ihnen bei diesem Gedanken?
Ricardo Lange: Damit habe ich kein Problem. Ich vertraue unseren Experten, dass sie sich entsprechende Konzepte überlegt haben, um die Öffnungen sicher möglich zu machen. Laut Aerosolforschern ist das Risiko, sich draußen anzustecken, außerdem viel geringer. Allerdings bin ich dafür kein Spezialist – meine Expertise liegt in der Intensivpflege.
Aktuell sinken die Inzidenzzahlen. Spüren Sie das auch auf den Intensivstationen?
Allmählich. Seit Kurzem haben wir deutlich weniger Corona-Patienten als noch vor ein paar Wochen, das macht natürlich Hoffnung. Dennoch darf man nicht vergessen, dass Covid-19-Patienten recht lange auf den Intensivstationen liegen. Und es kommt hinzu: Die Intensivstationen waren ja vor Corona schon voll.
Dennoch diskutieren wir erst seit Beginn der Pandemie darüber, dass die Intensivstationen überlastet werden könnten.
Ja. Es scheint die Vorstellung vorzuherrschen, dass die Intensivstationen nur für Corona-Patienten da sind. Dabei gibt es noch eine Reihe anderer Erkrankungen oder Unfälle, die Menschen zu uns bringen. Die Covid-19-Patienten kommen quasi on top dazu, was während der Pandemie dazu geführt hat, dass wir anderweitig Erkrankte provisorisch auf anderen Stationen unterbringen mussten.
Welche Konsequenzen hat es, dass Intensivpatienten, die nicht an Covid-19 erkrankt sind, teilweise auf anderen Stationen untergebracht werden müssen?
Zum einen bedeutet es, dass diese Patienten auf die normalen Intensivstationen zurückgebracht werden, sobald die Zahl der Corona-Intensivpatienten sinkt. Eine Entspannung der Lage auf den Intensivstationen ist deswegen nicht zu erwarten. Andererseits bedeutet das auch, dass Intensivpatienten auf anderen Stationen von Pflegepersonal betreut werden, das nicht speziell intensivmedizinisch geschult ist. Das stellt eine enorme psychische Belastung für die Fachkräfte dar.
Als Intensivpfleger sind Sie die hochkomplexe Arbeit mit schwerkranken und sterbenden Menschen gewohnt. Was ist bei der Pandemie für Sie anders als sonst?
Es sterben mehr Menschen als üblicherweise. Außerdem liegen Patienten mit Covid-19, vor allem die jüngeren, verhältnismäßig lange auf der Intensivstation. Im Gegensatz zur Zeit vor der Pandemie sind die Patienten auch die meiste Zeit allein. Die Angehörigen dürfen nur kommen, wenn die Erkrankten im Sterben liegen – und das Letzte, was die Patienten dann sehen, sind ihre Liebsten in Maske und Schutzkleidung. Es ist praktisch keine Nähe möglich.
Dasselbe gilt ja auch für Sie als Pflegekräfte: Direkter menschlicher Kontakt ist ja nicht möglich.
Das stellt auch für uns eine Belastung dar. Wir betreuen die Patienten schließlich wochenlang mehrere Stunden täglich, sind praktisch deren Familienersatz für die Zeit des Aufenthalts. Auch der Sterbeprozess ist anders für uns.
Inwiefern?
Normalerweise, wenn jemand stirbt, nehmen auch wir Pflegekräfte entsprechend Abschied: Wir fassen den verstorbenen Patienten so behutsam an, als würde er noch leben, das ist alles sehr gefühlvoll. Jetzt besteht der Abschied daraus, dass wir die Verstorbenen schnell in schwarze Säcke packen und den Reißverschluss zu machen. Das nimmt einen einfach mit, auch, wenn einige Leute sich das nicht vorstellen können.
Wie reagieren denn Menschen, die das nicht nachvollziehen können?
Vor allem, seit ich öffentlich über die Lage auf den Intensivstationen spreche, bekomme ich Hassnachrichten: Da heißt es dann zum Beispiel, wenn ich als Müllmann nicht in der Lage sei, den Müll in Säcke zu packen, sei ich im falschen Job. Solche Äußerungen erkennen mir die Menschlichkeit ab. Nur, weil das meine Arbeit ist, kann mir niemand verwehren, dass ich dabei auch Gefühle habe. Letztlich erwarten ja auch Absender solche Hassbotschaften, dass sie in der Klinik mit Empathie behandelt werden.
Wie gehen Sie mit der emotionalen Belastung um? Was tun Sie, um die Geschehnisse zu verarbeiten?
Ich gehe viel spazieren. Wenn man allerdings jeden Tag nur spazieren geht, lädt das den Akku auch irgendwann nicht mehr auf. Mir fehlen die sozialen Kontakte, der gemeinsame Sport, bei dem man sich auch mal unterhalten kann – ich fühle mich sozial isoliert.
Und das, obwohl Sie doch eigentlich in einem sozialen Beruf arbeiten. Ist das nicht widersprüchlich?
In gewisser Hinsicht ja. Das Problem ist zudem, dass viele Leute in meinem privaten Umfeld auch über Corona und die Maßnahmen diskutieren wollen. Das möchte ich allerdings nicht, wenn ich von der Arbeit heimkomme. Allein dadurch baut sich eine soziale Distanz auf.
Und wodurch noch?
Dadurch, dass manche Menschen, sogar Familienangehörige, mich manchmal infrage stellen und als Lügner bezeichnen, wenn ich von den Intensivstationen berichte. Ich verstehe, dass ich ein wenig betriebsblind bin, weil ich als Intensivpflegekraft vor allem die schweren Verläufe sehe. Die Menschen da draußen kriegen hingegen vor allem die milden Verläufe mit, bangen aber vielleicht um ihre finanzielle Existenz. Die Pandemie macht uns alle empfindlicher und treibt uns sozial auseinander.
Das heißt, sie können es nachvollziehen, wenn die Menschen mit Unverständnis reagieren?
Teilweise. Natürlich habe ich kein Verständnis dafür, wenn mich jemand per Sprachnachricht als Corona-Faschist beschimpft, den man vor Gericht stellen sollte oder wenn jemand behauptet, auf den Intensivstationen liegen nur Puppen in den Betten. Aber ich verstehe, dass die Leute unzufrieden sind, dass sie Angst haben, dass sie manche der Maßnahmen nicht verstehen. Ich habe die Maßnahmen allerdings nicht eingeführt und unterstütze auch nicht alle davon – die nächtliche Ausgangssperre kann ich beispielsweise nicht nachvollziehen. Ich denke, nach so langer Zeit der Pandemie sind wir alle überreizt, und an mir lassen manche Menschen nun ihre Wut aus.
Was war der bisher härteste Moment für Sie?
Das war ein Moment, der nicht direkt mit Corona oder der Intensivstation zusammenhängt: Mein Hund ist vor etwa einem halben Jahr gestorben, und ich konnte nicht einmal bei ihm sein, weil ich arbeiten musste. Sein Tod kam völlig unerwartet, die Nachricht darüber erreichte mich während meiner Schicht. In solchen Situationen muss man seine Trauer unterdrücken, weil man ja seine Patienten betreuen muss. Nach der Arbeit bin ich so langsam nach Hause gefahren wie noch nie – einfach, weil ich Angst hatte, heimzukommen. Ich habe dann meinen leblosen Hund bei strömendem Regen im Garten begraben. Bis heute bereue ich es, dass ich in den letzten Stunden nicht bei ihm sein konnte und 'Ja' zur Arbeit gesagt habe. Ich habe mich damals emotional erpressen lassen.
Wie meinen Sie das?
Es wird regelmäßig mit dem Personalmangel argumentiert, dass wir deswegen auch im privaten Notfall eine Schicht nicht absagen können. Wir können nicht für unsere Liebsten da sein, wenn sie uns brauchen, kommen spontan früher aus dem Urlaub zurück, machen Überstunden, um uns um die Patienten zu kümmern. Es kann aber nicht sein, dass wir den Kopf hinhalten müssen, wenn die Politik sich keine Lösungen einfallen lässt. Uns Pflegekräften wird damit eine Verantwortung übertragen, die für uns schädlich ist – und für die Patienten teilweise gefährlich.
Können Sie da ein Beispiel nennen?
Ich musste beispielsweise einmal allein drei Patienten betreuen, die in unterschiedlichen Zimmer lagen. Nun habe ich einen allein gelassen, um mich um die anderen zu kümmern. Der Covid-19-Patient war bei Bewusstsein, musste allerdings beim Atmen durch eine Maschine unterstützt werden und hatte deswegen eine Maske auf. Weil sein Zustand sich plötzlich verschlimmerte und er Atemnot bekam, geriet er in Panik und riss sich die Atemmaske vom Gesicht. Dabei rutschte ihm auch der Clip, den er am Finger trug und der die Sauerstoffsättigung seines Körpers anzeigte, vom Finger. Das löst dann ein Signal aus, damit wir Pfleger kommen und nach dem Rechten sehen. Normalerweise ist es kein Notfall, wenn der Clip vom Finger rutscht, das passiert häufiger, vor allem bei wachen Patienten.
Sie sind also nicht sofort zu besagtem Patienten hin?
Nein, ich musste mich ja auch um die anderen kümmern. Und wie gesagt, wenn der Clip verrutscht, ist das normalerweise kein Alarm, bei dem man sofort losrennt. Als ich dann allerdings endlich Zeit hatte, nach dem Patienten zu schauen, lag er bewusstlos im Bett. Wir konnten ihn glücklicherweise reanimieren. Aber dennoch ist es schlimm, dass solche Vorfälle wegen mangelnder Aufmerksamkeit passieren. Man übernimmt nicht freiwillig die Verantwortung für drei Leben auf einmal. Man fühlt sich hinterher schlecht, weil man dem gar nicht gerecht werden kann. Ohne die Aufopferungsbereitschaft des medizinischen Fachpersonals funktioniert dieses System nicht. Man fühlt sich dadurch emotional vergewaltigt.
Um auf diese Fehler im System aufmerksam zu machen, haben Sie Kontakt aufgenommen mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Vor Kurzem waren Sie auch bei der Bundespressekonferenz (BPK). Wie haben Sie das Gespräch empfunden?
Ich war zunächst einmal überrascht, dass nach über einem Jahr der Pandemie zum ersten Mal ein Krankenpfleger in der BPK mit dabei saß. Das erste Mal saß da praktisch ein normaler Mensch, kein Politiker oder Wissenschaftler.
Waren Sie aufgeregt?
Ja, aber ich habe auch nicht wirklich viel vorbereitet, außer ein paar Stichpunkte aufgeschrieben, die mir besonders wichtig waren. Herr Spahn hatte mich vor der Konferenz auch noch angerufen, um zu fragen, wie es mir geht und um mich über den Ablauf abzuklären. Während der Pressekonferenz allerdings hat es mich aufgeregt, dass Herr Spahn vor allem aufzählte, was er alles getan hat, um die Lage auf den Intensivstationen in den Griff zu kriegen – anstatt darüber zu reden, was nicht gemacht wurde. Dabei wurde wieder einmal außer Acht gelassen, dass die Intensivstationen schon vor der Pandemie überlastet waren. Wenn einem zu Beginn eines Marathons die Puste fehlt, kann man gar nicht durchhalten.
Sie sind denn weiterhin in Kontakt mit Herrn Spahn?
Sein Pressesprecher hat sich nach der Konferenz noch einmal bei mir gemeldet. Er und Herr Spahn fanden es, trotz unserer Differenzen, toll, dass ich da gewesen bin, weil jemand für die Pflegekräfte gesprochen hat. Wir wollen uns auch weiterhin austauschen.
Kurz nach ihrem Auftritt in der Bundespressekonferenz waren Sie bei "Markus Lanz" zu Gast. Friedrich Merz, der ebenfalls eingeladen war, zeigte sich recht unempathisch, als Sie über die Lage auf den Intensivstationen sprachen. Unter anderem sagte er, dass Sie mit ihrer Arbeit ja auch Geld verdienen wollen. Was haben Sie solchen Aussagen zu entgegnen?
Natürlich, ich bin ja keine Mutter Theresa und muss auch meine Rechnungen bezahlen. Den Spruch hätte Herr Merz sich aber klemmen können. Generell haben wir da unterschiedliche Ansichten. Allerdings kam Herr Merz nach der Sendung noch einmal auf mich zu und hat sich für meine Arbeit bedankt, das weiß ich zu schätzen.
Es heißt immer, Pflegekräfte könnten sich gegen die Umstände nicht wehren, weil sie sonst ihre Patienten im Stich lassen würden. Stimmt das?
Viele denken, dass wir streiken müssten, aber ich sehe das anders. Wir Pflegekräfte müssen erst einmal lernen, uns selbst wertzuschätzen. Denn nur, wer sich selbst achtet, kann auch Wertschätzung von anderen erwarten. Ich muss mich zuerst um meine Gesundheit, meine Familie kümmern, bevor ich mich um meine Arbeit kümmere. Ich kann nicht dafür herhalten, wenn die Politiker es nicht schaffen, die Mängel zu bewältigen. Wenn ich immer wieder selbst versuche, die Fehler im System aufzufangen und mich dafür aufopfere, helfe ich weder meinen Patienten noch meinen Kollegen. Die Pflege muss selbstbewusster werden: Wir sind da, wir kümmern uns – aber irgendwann ist auch Schluss.