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Intensivmediziner: "Belastung durch Sterben und Tod ist in der dritten Welle hoch"

Covid-Intensivpatienten werden immer jünger, mahnt Intensivmediziner Stefan Kluge. (Symbolbild)
Covid-Intensivpatienten werden immer jünger, mahnt Intensivmediziner Stefan Kluge. (Symbolbild)Bild: iStockphoto / Moostocker
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Intensivmediziner Stefan Kluge: "Die Belastung durch Sterben und Tod ist in der dritten Welle jetzt wieder sehr hoch"

26.04.2021, 12:5626.04.2021, 13:42
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Wieder liegt der 7-Tage-Inzidenzwert über 160, wieder wurden über 20.000 Corona-Neuansteckungen deutschlandweit gemeldet: Die Pandemie scheint kein Ende nehmen zu wollen. Während die Regierungsmehrheit im Bundestag in einem Verzweiflungsakt das Infektionsschutzgesetz dahingehend änderte, dass nun eine bundesweit einheitliche Notbremse gilt, wütet das Virus auf den Intensivstationen weiter: Weiter steigt die Zahl der Intensivpatienten. Weiter sinkt deren Alter.

Der Chefarzt Thomas Voshaar von der Lungenklinik Bethanien in Moers kritisierte zuletzt die mahnenden Worte der Intensivmediziner, die in den vergangenen Wochen immer eindringlicher wurden: "Der Alarmismus der Intensivmediziner der DIVI ist unverantwortlich und unverhältnismäßig", sagte Voshaar gegenüber der "Bild". "Denn er ist durch die tatsächlichen Zahlen nicht gestützt. Nicht mal ein Viertel der 22.000 Intensivbetten in Deutschland sind mit Covid-19-Patienten belegt. Wieso droht da Gefahr?"

Ein Viertel von Corona-Patienten belegte Betten, das klingt zunächst nicht nach viel. Dennoch müssen mittlerweile erste Patienten nicht nur in Kliniken anderer Städte, sondern gleich anderer Bundesländer verlegt werden. So betreut Stefan Kluge, Leiter der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), bereits den ersten Patienten aus Thüringen.

Mit Kluge hat watson über die Situation auf seiner Station gesprochen – darüber, wie es um die Lage der Intensivmedizin tatsächlich steht und warum Pflegekräfte womöglich einem größeren psychischen Druck ausgesetzt sind als Ärzte.

"Das Hauptinfektionsgeschehen hat sich nun auf jüngere Menschen verlagert."

watson: Herr Kluge, wie ist denn aktuell die Lage auf Ihrer Station? Wie viele Corona-Patienten versorgen Sie gerade?

Stefan Kluge: Wir haben 36 von 140 Intensivbetten für unsere Covid-Patienten reserviert, belegt sind momentan 27 davon. Das klingt zunächst einmal nicht nach viel. Man muss allerdings auch bedenken, dass Covid-Erkrankte im Schnitt länger auf der Intensivstation bleiben als andere Patienten und auch personalintensiver in der Versorgung sind.

Wie lange bleiben Corona-Patienten durchschnittlich auf Ihrer Station?

Wer beatmet werden muss, verbringt etwa 16 Tage bei uns. Einige Patienten bleiben aber auch länger, vor allem diejenigen, die mithilfe einer künstlichen Lunge versorgt werden müssen: Etwa ein Viertel muss länger als einen Monat betreut werden, zwei Patienten sind momentan über zwei Monate hier, ein Patient sogar ein halbes Jahr lang.

Sind diese Aufenthaltszeiten üblich bei Menschen mit einer Lungenentzündung?

Wir haben beobachtet, dass der Klinikaufenthalt von Patienten mit einem schweren Covid-Verlauf länger dauert als bei anderen Formen der Lungenentzündung oder Grippe.

Wir befinden uns mittlerweile in der dritten Corona-Welle. Sehen Sie eine Veränderung bei Ihren Patienten?

Der Altersdurchschnitt unserer Covid-19-Intensivpatienten ist von 61 auf 56 Jahre gesunken. Darin wird deutlich, dass die Impfungen erste Erfolge zeigen: Denn die ältere Population ist dadurch nahezu 100 Prozent geschützt. Das Hauptinfektionsgeschehen hat sich nun auf jüngere Menschen verlagert. Zu Beginn der Pandemie war ein 40-jähriger Corona-Intensivpatient eine Seltenheit, mittlerweile versorgen wir auch unter 30-Jährige.

"Dass Patienten vereinzelt von einem Bundesland ins nächste verlegt werden müssen, zeigt, wie angespannt die Lage ist."

Welche Schwierigkeiten bringt das mit sich?

Die jüngeren Corona-Patienten kämpfen in der Regel länger mit der Krankheit. Das hat zur Folge, dass sie länger auf der Intensivstation bleiben müssen und die Betten dadurch länger belegt sind. Weniger dringliche Operationen müssen verschoben werden, das Pflegepersonal wird länger und intensiver beansprucht. Dadurch ist die Situation belastender als zuvor. Und natürlich sterben einige Patienten trotz jüngeren Alters.

Wie hoch ist denn die aktuelle Sterbequote im Vergleich zu den ersten beiden Corona-Wellen?

Dazu gibt es momentan noch keine wissenschaftlichen Auswertungen. Was wir allerdings beobachtet haben: In der zweiten Welle gab es extrem viele Ausbrüche in Pflegeheimen, die vor allem ältere Menschen getroffen haben. Da war die Sterblichkeit extrem hoch. Auch bei den nun jüngeren Covid-19-Intensivpatienten versterben allerdings circa 30 Prozent, wenn sie beatmet werden mussten.

Es heißt, dass in Hamburg mittlerweile auch Patienten aus weiter entfernten Bundesländern wie Thüringen aufgenommen werden. Wie kommt es dazu?

Momentan ist es lediglich ein Patient aus Thüringen, der auf unserer Intensivstation liegt. Dort ist die Zahl der Neuinfektionen gerade besonders hoch und es gibt teilweise Schwierigkeiten bei der Versorgung mit künstlichen Lungen, die in manchen Kliniken knapp werden. Das zeugt noch nicht von einer Katastrophe, alle Covid-Patienten können versorgt werden. Dass Patienten allerdings vereinzelt von einem Bundesland ins nächste verlegt werden müssen, zeigt, wie angespannt die Lage ist.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft warnte am Mittwoch vor Engpässen in den Kliniken, weil viele Operationen nicht mehr um Wochen, sondern womöglich um Monate verschoben werden müssen. Ist das auf Ihrer Station auch der Fall?

Ja, auch im UKE müssen derzeit wieder vereinzelt nicht dringliche Operationen verschoben werden. Das ist zum Beispiel bei künstlichen Hüftgelenken oder Operationen bei gutartigen Diagnosen wie etwa Schilddrüsenfunktionsstörungen der Fall. Nach solchen OPs müssen die Patienten in der Regel nicht auf die Intensivstation. Es geht vielmehr darum, dass wir das für die Beatmung geschultes Personal aus dem OP abziehen und auf unseren Intensivstationen einsetzen müssen, um auf den Stationen weitere Covid-Patienten versorgen zu können.

"Wir haben einzelne Patienten, die ihren OP-Termin in der ersten pandemischen Welle gehabt hätten und immer noch warten, weil der Termin mehrfach verschoben werden musste."

Wie lange müssen die Patienten dann im Schnitt auf ihren Operationstermin warten?

Das ist ganz unterschiedlich. Wir haben einzelne Patienten, die ihren OP-Termin in der ersten pandemischen Welle gehabt hätten und immer noch warten, weil der Termin mehrfach verschoben werden musste. Wir können aber nur die Operationen verschieben, die nicht dringlich sind. Operationen an Gehirntumoren und Darmkarzinomen zum Beispiel sollten auch weiterhin zeitnah durchgeführt werden. Ich kann aber nur für das UKE sprechen. Es gibt auch regionale Unterschiede. In Schleswig-Holstein zum Beispiel können die meisten OPs wie geplant stattfinden.

Der Lungenfacharzt Thomas Voshaar hat vor Kurzem in der "Bild" den Alarmismus der Intensivmediziner kritisiert: Schließlich seien nicht einmal ein Viertel der Betten in Deutschland mit Covid-Patienten belegt. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Der Kollege, der selbst kein Intensivmediziner ist, vertritt eine Außenseitermeinung zur Pandemie. 99 Prozent der Intensivmediziner, mit denen ich spreche, sind höchst besorgt. Wie gesagt, wenn Patienten von Thüringen hierher verlegt werden müssen, zeugt das bereits von einer absoluten Notfallsituation. Wir müssen noch keine Triage vornehmen, aber die Notfallversorgung ist momentan durch die Pandemie eingeschränkt. Auch in Nachbarländern wie zum Beispiel Belgien und den Niederlanden warnen die Intensivmediziner übrigens aktuell vor einer eingeschränkten Notfallversorgung.

Intensivmediziner Stefan Kluge, hier im Rathhaus Hamburg, berät regelmäßig zur weiteren Entwicklung in der Corona-Pandemie.
Intensivmediziner Stefan Kluge, hier im Rathhaus Hamburg, berät regelmäßig zur weiteren Entwicklung in der Corona-Pandemie.Bild: www.imago-images.de / gbrci

Als Intensivmediziner sind Sie es gewohnt, mit schwerkranken Patienten zu arbeiten oder sie gar sterben zu sehen. Was ist jetzt anders während der dritten Corona-Welle?

Normalerweise sterben etwa 9 Prozent der Patienten auf unseren Intensivstationen. Bei Covid-19 sind es mit 30 bis 40 Prozent allerdings deutlich mehr. Wer durch eine künstliche Lunge beatmet wird, hat eine Überlebenschance von unter 50 Prozent. Die Belastung durch Sterben und Tod ist in der dritten Welle jetzt wieder sehr hoch.

Wie geht es Ihnen und den medizinischen Fachkräften angesichts der angespannten Lage?

Für mich als Chefarzt ist das alles vergleichsweise weit entfernt, weil ich nicht so viel Zeit direkt mit den Patienten verbringe wie die Mitarbeitenden und insbesondere die Pflegenden, die acht Stunden pro Tag mit den Erkrankten arbeiten. Für sie bedeutet die Pandemie einen erheblichen Druck. Dazu kommt noch die allgemeine Corona-Müdigkeit, die nun wohl alle verspüren.

"Ich kann die aktuelle Diskussion um die Ausgangssperre nicht nachvollziehen: Wir brauchen einfach einheitliche Maßnahmen."

Haben Sie denn Maßnahmen ergriffen, um die Pflegekräfte zu unterstützen?

Ja, unseren Pflegenden stehen bereits seit Beginn der Pandemie Psychologen und Seelsorger zur Seite. Auch machen wir virtuelle Stationsbesprechungen, um über die aktuelle Lage zu reden.

Nach wie vor scheint sich die Pandemie-Lage allerdings nicht zu entspannen. Nun wurde das Infektionsschutzgesetz entsprechend geändert. Welche Maßnahmen müssten Ihrer Meinung nach noch ergriffen werden?

Ich kann die aktuelle Diskussion um die Ausgangssperre nicht nachvollziehen: Wir brauchen einfach einheitliche Maßnahmen. Die Anzahl der Intensivpatienten mit Covid-19 stieg zuletzt in Deutschland jeden Tag, dadurch wird die Versorgung der anderen Patienten eingeschränkt. Dass wir unsere Kontakte angesichts der aktuellen Lage weiterhin beschränken müssen, ist doch völlig unstrittig. Ich habe den Eindruck, dass der Wahlkampf aktuell auf dem Rücken der Patienten ausgetragen wird. Das finde ich schade.

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