"Mein Blutdruck liegt bei 185 zu 107", sagt meine Mutter am Telefon.
Natürlich ist sie aufgeregt – das bin ich auch. Nach nur wenigen Monaten Suche hat meine Mutter nun die Zusage für eine Wohnung in Berlin bekommen, wo ich seit zwei Monaten lebe.
Es ist mittlerweile immer etwas Besonderes, wenn jemand eine neue Wohnung in einer deutschen Großstadt findet. Unter einem halben Jahr Suche klappt es ja selten. Etwas Bezahlbares zu finden, ist generell nahezu unmöglich, und dann auch noch zentral gelegen? Niemals!
Bei meiner Mutter war das jetzt noch etwas spezieller. Denn meine Mutter lebt von Hartz IV. Erfahrungsgemäß ist das kein Grund, jemandem eine Wohnung zu vermieten. Hartz-IV-Empfänger sind aufgrund ihrer finanziellen Situation und ihres eher negativ belasteten Images nicht gerade beliebt auf dem Wohnungsmarkt.
Da war sie nun also, die eine, so wichtige E-Mail im Posteingang meiner Mutter. Darin steht: Herzlichen Glückwunsch, Sie dürfen bei uns einziehen.
Und dann heißt es weiter: Es wird nur noch die Bestätigung des Jobcenters in Berlin benötigt, dass die Kosten für die Wohnung übernommen werden.
Ich hielt die Angelegenheit anfangs für eine lächerliche, bürokratische Lappalie.
Die Sachbearbeiterin meiner Mutter in Essen sagte:
Nur die Umzugskosten könnten vom Jobcenter nicht übernommen werden. Aber das ist kein Problem, meine Mutter hat bereits begonnen, ihre Möbel zu verkaufen und auszumisten. Es würde wohl eher ein kleiner und dementsprechend Umzug werden.
Und selbst der steht mittlerweile auf der Kippe, wie sich herausstellt. Denn, wie wir lernen mussten: Die Wohnungssuche mit Hartz IV ist nicht einmal das große Problem. Die Schwierigkeiten beginnen erst, wenn die Zusage für eine Wohnung kommt.
Gestern erreichte mich ein Anruf meiner Mutter – sie war völlig aufgelöst, weinte, fluchte wie ein Seemann. Zwischen dem Schluchzen und Schimpfen hatte ich Schwierigkeiten, sie zu verstehen. Bruchstückhaft dringt es zu mir durch:
Das Problem ist also: Die Vermieterin will die Bestätigung eines Jobcenters, bei dem meine Mutter noch nicht gemeldet ist. Momentan zahlt die Stadt Essen für sie, für ihre Wohnung in Essen selbstverständlich auch. Für eine Wohnung in Berlin würde dementsprechend Berlin zahlen. Beides zusammen geht nicht, weil man ja nicht doppelt soziale Leistungen beziehen darf.
Außerdem kam die Zusage für die Wohnung in Berlin so plötzlich, dass meine Mutter noch keine Bestätigung über eine Kostenübernahme seitens des Jobcenters in Berlin einholen konnte. So etwas geht schlecht über Nacht, normalerweise dauert das Wochen.
Als meine Mutter der Vermieterin vorschlug, dass ich die Miete zahlen könnte, bis die Bestätigung des Jobcenters kommen würde, hieß es: Das geht nur, wenn ich mich für ein Jahr verpflichte, die gesamten Lebenskosten meiner Mutter zu tragen. Damit das Wohnungsunternehmen mit Sicherheit weiß, dass meine Mutter mehr Geld als lediglich die Miete zur Verfügung hat.
"Die Vermieterin hatte kein Verständnis", sagt meine Mutter. "Als ich versuchte, ihr die Lage zu erklären, meinte sie nur: 'Das interessiert mich alles nicht.' Warum hat sie mir die Wohnung dann überhaupt angeboten?"
Um herauszufinden, ob wir die Situation noch irgendwie retten können, rufe ich bei der Jobcenter-Hotline in Berlin an. Eine freundliche Dame informiert mich, dass meine Mutter zunächst eine Bestätigung darüber benötigt, dass sie umziehen darf.
"Nein. Braucht sie laut Jobcenter Essen nicht. Wir sind ja ein freies Land", zitiere ich die Sachbearbeiterin meiner Mutter.
Dann müsse meine Mutter eben zum Jobcenter in Berlin und den Fall vor Ort entscheiden lassen, sagt die Dame von der Hotline. Ich könnte demnach auch für meine Mutter zum Jobcenter hier in Berlin gehen, wenn sie mir eine Vollmacht ausstellt.
Ich bin nun fest entschlossen, für meine Mutter diese Wohnung in Berlin durchzuboxen. Ich rufe sie noch einmal an, beschwichtige sie, bitte sie, mir alle notwendigen Dokumente, wie den aktuellen Hartz-IV-Bescheid und das Wohnungsangebot aus Berlin samt einer unterschriebenen Vollmacht zuzuschicken. Am nächsten Tag will ich ins Jobcenter.
Auch im Jobcenter in Berlin wird mir erst einmal erklärt, dass das Jobcenter in Essen zuallererst eine Erlaubnis ausstellen muss, dass meine Mutter umziehen darf. "Aber das ist doch ein freies Land", wiederhole ich, schon weit weniger überzeugt.
Es stellt sich heraus: Meine Mutter kann prinzipiell in Berlin Hartz IV beantragen und regulär beziehen, es können auch die Kosten für die Wohnung übernommen werden. Allerdings nicht sofort. Weil der Hartz-IV-Bescheid aus Essen noch gültig ist.
Es ist vertrackt. Um eine Wohnung in Berlin zu bekommen, benötigt meine Mutter eine Bestätigung des Jobcenters Berlin. Die bekommt sie aber nur, wenn sie Hartz IV in Berlin bekommt – und das bekommt sie nur, wenn sie bereits dort wohnt und keine Leistungen aus einer anderen Stadt bezieht. Aber wie soll sie denn ohne Wohnung in Berlin wohnen?
Seid ihr jetzt verwirrt? Glaubt mir, ich bin es auch.
Ich frage die Jobcenter-Mitarbeiterin, wie man das denn anstellen soll. Sie sagt: "Ihre Mutter hätte sich von den sozialen Leistungen in Essen abmelden müssen und dann erst mit der Wohnungssuche und Antragstellung in Berlin beginnen."
"Aber hätte sie damit nicht riskiert, am Ende mit leeren Händen dazustehen? Wenn ihr Antrag in Berlin nicht durchgegangen wäre und sie keine Wohnung gefunden hätte innerhalb kürzester Zeit?"
Die Mitarbeiterin nickt. Na, das klingt ja nach keiner guten Lösung.
Am Ende finden wir einen anderen Ausweg: Das Jobcenter bestätigt meiner Mutter, ab einem Monat später – also ab Juli anstatt Juni – die Kosten für eine Wohnung in Berlin zu übernehmen. Bis dahin kann sie sich von ihren Leistungen in Essen abmelden. Und ich erkläre offiziell, die erste Miete meiner Mutter in Berlin und ihre Kaution zu übernehmen. Dann zahlt kein Jobcenter doppelt und die Vermieterin hat ihr Geld.
Erschöpft verlasse ich das Jobcenter und sprinte zurück zur Arbeit. Den halben Tag habe ich nun dort verbracht, mit mehreren Sachbearbeitern gesprochen, die wiederum andere Sachbearbeiter und Rat fragen mussten. Nur, um am Ende wieder einmal feststellen zu müssen: Mit ein wenig Geld lässt sich plötzlich alles lösen.
Ich bin froh, dass ich mittlerweile in einer finanziellen Lage bin, dass ich meiner Mutter in solchen Notfällen aushelfen kann. Sonst hätte sie die Wohnung in Berlin nicht bekommen.
Allerdings frage ich mich: Was machen denn alle anderen Hartz-IV-Empfänger, die vielleicht aus persönlichen oder familiären Gründen umziehen wollen und eben keine Verwandten haben, die ihnen mit ein wenig Geld aushelfen können?
Dieses Erlebnis macht mir wieder einmal bewusst: Hartz IV ist ein tieferer Eingriff in das Privatleben von Menschen, als vielen von uns klar ist. Geldmangel schränkt unsere persönliche Freiheit extrem ein. Selbst die Möglichkeit, unseren Wohnort, an dem wir uns am wohlsten fühlen, frei zu wählen.
So habe ich meiner Mutter immerhin ein Stück Freiheit erkauft. Es fühlt sich gut an, dass ich immerhin das für sie tun kann.