"Ich ziehe nach Australien". Diese Worte habe ich in den letzten Monaten etliche Male ausgesprochen, doch nie haben sie sich so wirklich real angefühlt. "Ich ziehe nach Australien", kam mir ähnlich leicht über die Lippen wie "alles ohne scharf". Der Satz verlor irgendwann an Bedeutung. Und doch wusste ich, dass mein Umzug nach Australien viel mehr war als eine Dönerbestellung am Freitagabend. Der Satz bedeutete, dass ich meine wunderschöne Altbauwohnung in Berlin aufgeben und meinen gewohnten Redaktionsjob kündigen muss. Er bedeutete, meine Freunde und meine Familie am anderen Ende der Welt zurückzulassen. Und er bedeutete, einen Neuanfang zu starten – 15963 Kilometer entfernt von meinem gewohnten Umfeld.
Immer wenn ich Leuten meine Pläne offenbarte, führte ich so gut wie jedes Mal dieselbe Unterhaltung: "Oh krass. Also machst du dort ein Auslandssemester?" "Nein. Ich ziehe da so richtig hin." "Also für ein paar Jahre?" "Ich weiß nicht, wie lange. Unbefristet." "Und warum?" Ja, warum eigentlich? Ich habe in Berlin mein Zuhause, mein:e Freund:innen, mein Studium, meine Arbeit – warum sollte ich das alles aufgeben?
Nach dem Abitur 2018 habe ich das gemacht, was viele Jugendliche der oberen Mittelschicht machen, wenn sie noch keine Lust auf Studieren haben und nach etwas suchen, wovon sie noch Jahre später immer und immer wieder erzählen können, auch wenn absolut niemand danach gefragt hat – ich bin als Backpackerin nach Australien gereist. Mein Plan war es, in Melbourne zu starten, mir dort einen Job zu suchen, ein paar Monate lang zu arbeiten, mir mit dem angesparten Geld ein Auto zu kaufen und damit dann die Ostküste hochzufahren.
Bereits nach etwa einem Monat warf ich mein Vorhaben über den Haufen, denn aus einem gemütlichen Freitagabend mit Weißwein und Tinder auf der Couch wurde innerhalb weniger Wochen eine Beziehung mit einer australischen Person. Es war also der Fall eingetreten, den meine Mama mir bereits Monate vor meiner Abreise prophezeit hatte: "Wart’s nur ab, du wirst dich in Australien verlieben und dann nie wieder zurückkommen." Damals habe ich die Weissagung belächelt, doch meine Erfahrung hat gezeigt, dass Eltern am Ende doch häufiger Recht haben, als wir Kinder es uns gerne eingestehen wollen.
Mit einer Sache sollte meine Mama jedoch daneben liegen: Ich blieb nicht in Australien, sondern reiste nach einem Jahr in Down Under planmäßig wieder zurück nach Deutschland – diesmal jedoch nicht allein.
Trotz nassem Wetter und kafkaesker Bürokratie sind mein:e Partner:in und ich also nach Deutschland gezogen. Nicht nur, weil es dort Brezeln gibt und Spinnen, die nicht darauf aus sind, dich umzubringen, sondern vor allem wegen der (fast) kostenlosen Bildung. Für ein Studium der Philosophie und Literaturwissenschaften hat es mich nach Berlin verschlagen. An einer Universität in Australien, hätte mich mindestens 80.000 Euro gekostet, Gedichte zu analysieren und Kant zu lesen. Und seien wir mal ehrlich: Bei meiner Fächerwahl hätte es eine ganze Weile lang gedauert, bis der Studienkredit abbezahlt gewesen wäre.
Hat es sich gelohnt, Sonne, Strand und Kängurus gegen Plattenbau, Tauben und die U8 zu tauschen? Ja. Denn obwohl wegen Corona meine Studienzeit in der Hauptstadt anders verlaufen ist, als ich es mir erhofft hatte, habe ich unfassbar viele großartige Erfahrungen gesammelt und vor allem Leute kennengelernt, die meinen Abschied nach 3,5 Jahren unbeschreiblich schwer gemacht haben.
Von Anfang an war klar, dass mein:e Partner:in und ich nur so lange in Deutschland bleiben würden, bis ich meinen Studienabschluss hatte. Ich machte daraus kein Geheimnis. Wenn Leute mich nach meinen Zukunftsplänen fragten, dann fanden diese immer in Australien statt. Selbst bei Bewerbungsgesprächen schmierte ich niemandem Honig ums Maul á la "Wo ich mich in fünf Jahren sehe? Ja, hoffentlich bei Ihnen in der Firma haha". Ich sah mich nie in Deutschland. Für mich war immer klar, dass ich irgendwann mal auswandern würde.
Doch obwohl ich so viel Zeit hatte, um mich emotional auf den Abschied vorzubereiten, traf er mich härter – und vor allem anders – als ich es mir zuvor ausgemalt hatte. In den Wochen und Monaten vor unserem Abflug hatte ich keine freie Minute, um das zu verarbeiten, was mir bevorstehen würde. Ich musste Arbeit, Uni, Wohnungsauflösung und jede Menge Bürokratie-Kram auf einmal jonglieren. Da hatte ich einfach keine Kapazitäten, um mich auch noch mit meinem Innenleben zu beschäftigen.
Die meiste Zeit waren meine Auswanderungspläne nicht mehr als ein abstraktes Konzept. Ein Punkt auf der To-do-Liste der abgehakt werden musste. Momente der Klarheit überkamen mich erst, als ich anfing, mich nach und nach von Freund:innen zu verabschieden. Fast jeden Tag traf ich Leute zum vorerst letzten Mal. Die letzte gemeinsame Vorlesung. Die letzte gemeinsame Mittagspause. Das letzte gemeinsame Abendessen. Die letzte Umarmung. Begleitet von vielen Tränen, einem Gefühl der Leere und dicht gefolgt von der Frage: "Ist es das alles wirklich wert?"
Etwa ein Monat ist seit meiner Landung am Flughafen in Melbourne vergangen. Und die Worte "Ich lebe in Australien" fühlen sich noch immer fremd und surreal an. Ab wann ich mich wohl nicht mehr wie eine Touristin fühlen werde? Vielleicht wird mich in den kommenden Wochen ein Moment der Klarheit überkommen. Ein Moment, in dem ich realisiere, dass ich wirklich angekommen bin. Vielleicht erwartet mich dieser Moment morgen früh. Vielleicht aber auch erst in ein paar Jahren.
Ob sich die schlaflosen Nächte, die etlichen Besuche in Berliner Behörden und die vielen tränenreichen Abschiede gelohnt haben? Das kann ich noch nicht beantworten. Aber während ich diese Worte schreibe, scheint mir die Sonne ins Gesicht, in der Ferne zwitschern Papageien und in der Luft liegt der Geruch von Eukalyptus. Ich glaube, daran kann ich mich gewöhnen.