Klima, Krieg, Corona – die Krise als Normalzustand? Wie junge Europäer über die Weltkrisen und ihre Zukunft denken hat die heute vorgestellte Jugendstudie der TUI Stiftung verraten.
Das Meinungsforschungsinstitut YouGov befragte dazu im April 2022 über 6000 Menschen zwischen 16 und 26 Jahren in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland und Polen. watson hat sich die Ergebnisse angesehen und mit Markus Spittler, Politikwissenschaftler von der Humboldt-Universität in Berlin, gesprochen. Er begleitet und wertet die jährlich durchgeführte Studie bereits seit 2017 wissenschaftlich aus.
Die Mehrheit der europäischen Jugend sieht im Krieg in der Ukraine eine Zeitenwende. 66 Prozent der Befragten stimmen dieser Aussage zu. Die Deutschen liegen mit ihrem Zustimmungswert von insgesamt 67 Prozent nah am Vergleich zum gesamteuropäischen Mittelwert.
Vor allem in Polen, Deutschland, Italien und Griechenland empfinden junge Menschen den Überfall Russlands auf die Ukraine als persönliche Bedrohung. In diesen Ländern bewegen sich die Zustimmungswerte im Bereich zwischen 22 (Deutschland) und 25 Prozent (Polen).
Am wenigsten Angst hat die Jugend mit sieben Prozent Zustimmung in Großbritannien. Die Furcht vor einem Krieg in einem EU-Land nimmt im Gesamtdurchschnitt aber zu: Fast die Hälfte (46 Prozent) der jungen Europäer halten einen Krieg in einem EU-Mitgliedsland in den nächsten zehn Jahren für möglich, 2020 waren es nur 37 Prozent.
Für die Mehrheit der jungen Europäer (68 Prozent) ist die EU vor allem ein wirtschaftlicher Zusammenschluss. Dennoch wird sie als eine Institution wahrgenommen, die den Frieden zwischen den Staaten Europas sichert. Daran ändert auch der Krieg in der Ukraine nichts: Im Jahr 2017 sagten 63 Prozent der befragten 16- bis 26-Jährigen, dass die EU dazu "absolut notwendig" sei, im April 2022 waren es 62 Prozent.
Doch scheint sich gerade in den Staaten mit besonders europakritischen Regierungen im Vergleich zu den letzten Befragungen etwas getan zu haben. So würden 60 Prozent der jungen Briten 2022 für einen Wiedereintritt des Vereinigten Königreichs zur EU stimmen – die Tendenz allerdings rückläufig. Hier stimmten 2019 noch 68 Prozent der Befragten zu.
Im besonders EU-kritischen Polen findet gerade, wie Markus Spittler sagt, etwas statt, was man als “rallying around the EU flag”, ein Scharen um die EU Flagge, bezeichnen könnte: Nur noch sieben Prozent der jungen Polen und Polinnen wollen aus der EU austreten, ein Allzeittief.
Markus Spittler kommentiert diese Entwicklung gegenüber watson:
Drei von fünf jungen Menschen beschreiben sich in ihrer Identität als zumindest teilweise europäisch (60 Prozent). Nur rund ein Viertel (25 Prozent) sehen sich selbst ausschließlich als Bürger ihres Nationalstaates. Im Jahresvergleich lässt sich in allen Ländern eine stärkere Identifikation mit Europa beobachten: Mehr junge Menschen geben an, sich zumindest teilweise als Europäer zu verstehen.
76 Prozent der jungen Europäer sehen sich durch den Klimawandel stärker bedroht als durch die Corona-Pandemie (50 Prozent) und durch den Krieg in der Ukraine (64 Prozent). Eine Ausnahme bildet in Bezug auf den Krieg nur Polen. Hier wird der Krieg von 69 Prozent der Befragten als deutlich bedrohlicher empfunden – was möglicherweise der geographischen Lage in direkter Nähe zur Ukraine geschuldet ist.
71 Prozent der europäischen Jugend ist daher bereit, Kompromisse für den erfolgreichen Kampf gegen den Klimawandel einzugehen und 69 Prozent sehen den Klimaschutz als Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger. Maßnahmen gegen den Klimawandel werden von 66 Prozent sogar als Sicherung von zukünftiger Freiheit wahrgenommen.
Dabei ist die Einstellung aber grundsätzlich weniger ideologisch und dafür eher pragmatisch geprägt, bestätigt auch der Politologe Markus Spittler. "Weder Geschlecht, Bildungsstand, Wohnort, noch der Lebensstandard des Elternhauses machen einen wesentlichen Unterschied bei der Bewertung von Klimaschutzmaßnahmen. Junge Europäerinnen und Europäer sind sich der Dringlichkeit bewusst, mit der Lösungen für das Klima gefunden werden müssen."
So sind 44 Prozent bereit, die Atomenergie als Brückentechnologie zu nutzen. Dementsprechend unterstützen 37 Prozent der Befragten auch die jüngste Entscheidung der EU, die Atomenergie als klimaneutral einzustufen (EU-Taxonomie). 42 Prozent sehen grünen Wasserstoff als Energiequelle der Zukunft.
Vom Staat erwarten sich junge Menschen aktive Unterstützung im Kampf gegen den Klimawandel. 58 Prozent der Befragten meinen, dass dieser über höhere Steuern, Regeln und Verbote dafür sorgen sollte, dass Produkte und Dienstleistungen klimafreundlich sind.
Junge Menschen quer durch Europa sind zu 66 Prozent auch bereit, für den Klimaschutz Abstriche zu machen, auch wenn dies Einschränkungen in ihrem gewohnten Lebensstandard bedeutet. Am größten ist die Akzeptanz von Einschränkungen in Bezug auf Konsumverhalten, etwa bei Kleidung und Schuhen (62 Prozent), aber auch bei der Nutzung von Autos sowie Reisen und Urlaub (jeweils 55 Prozent).
Jedoch fallen die Zustimmungswerte geringer aus, wenn mit Maßnahmen gegen den Klimawandel persönliche Kosten verbunden sind. Höhere Kosten für Benzin akzeptieren nur 35 Prozent der jungen Europäerinnen und Europäer (in Deutschland 45 Prozent), für Lebensmittel 35 Prozent (45 Prozent in Deutschland) und für Wärme und Strom 34 Prozent (44 Prozent in Deutschland).
Energiewende bitte ja, aber ohne persönliche Kosten? Auf Nachfrage von watson erklärt der Politikwissenschaftler Markus Spittler den vermeintlichen Widerspruch dieser Aussagen:
Spittler interpretiert die Umfrageergebnisse in Bezug auf die geforderte aktive Rolle des Staates beim Klimaschutz zudem so: "Das ist kein Abschieben an den Staat, eher ein Ruf nach verbindlichen Regeln und wir sind auch bereit, diese verbindlichen Regeln zu akzeptieren."
In Bezug auf die Lebenssituation junger Menschen ist im Vergleich zur Jugendstudie vom vergangenen Jahr eine leichte Verbesserung zu beobachten. Weiterhin gibt zwar rund ein Drittel der Befragten an, ihre Lebenssituation habe sich durch die Pandemie verschlechtert, ihr Anteil ist mit 36 Prozent jedoch einiges geringer als im Vorjahr: 2021 waren es noch 52 Prozent. Auch beschrieben 36 Prozent der jungen Europäer ihren Gefühlszustand im Jahr 2022 als "positiv" oder "eher positiv".
Die negativen Auswirkungen der Pandemie wurden vor allem in sozialer aber auch beruflicher Hinsicht als hoch empfunden. Am stärksten sahen sich junge Europäer bei den Themen Hobbys und Freizeitgestaltung sowie Schule, Ausbildung und Studium mit den Auswirkungen der Pandemie konfrontiert. Mehr als drei von fünf Befragten (62 Prozent) geben zudem an, Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit gespürt zu haben.
Eine große Mehrheit der jungen Menschen in Europa (67 Prozent) bemängelt im Rückblick die fehlende Wertschätzung der Gesellschaft gegenüber der Jugend, die in der Pandemie auf Vieles verzichtet hat. Am kritischsten äußern sich hier junge Griechen und Spanier, jene Länder, wo auch die strengsten Lockdown-Maßnahmen galten.
Junge Menschen sind im Jahr 2022 weniger optimistisch, was ihre Zukunftsaussichten angeht. Mit Ausnahme von Spanien und Italien stiegen in Deutschland (von 29 Prozent in 2017 auf 35 Prozent in 2022), Frankreich (von 33 auf 41 Prozent), Griechenland (von 27 auf 30 Prozent), Polen (von 18 auf 32 Prozent) und in Großbritannien (von 29 auf 41 Prozent) die pessimistischen Einstellungen in Bezug auf die die persönliche Situation jeweils auf Rekordwerte.
Markus Spittler sieht jedoch trotz der pessimistischen Zukunftssicht der Befragten einen positiven Aspekt. Nicht nur trotz, sondern gerade wegen der vielen Krisen und Herausforderungen der vergangenen Jahre. Er sieht das Bewältigen der Krisen als Chance für künftige Herausforderungen und Aufgaben: "Es besteht die Möglichkeit, dass gerade eine krisenerfahrene und vielleicht krisenresistente Generation in Europa heranwächst."