Was für ein Stolperstart ins erwachsene Leben: Wer in der Corona-Pandemie die Schulzeit abschloss, musste in eine Welt hinaus, die voller Schranken war. Auslandsjahr? Unsicher. Studienstart? Nur digital. Ausbildung? Nur in der Theorie. Dieser Frust in einer Zeit, in der einem eigentlich Flügel wachsen sollten, hat Spuren hinterlassen – vor allem in der Psyche.
So zeigt eine Studie der Bertelsmann Stiftung, dass 61 Prozent der jungen Menschen sich in der Pandemie einsam fühlten. 64 Prozent stimmen der Einschätzung zu, psychisch belastet zu sein. 69 Prozent wurden auch von Zukunftsängsten geplagt. Möglichkeiten des Ausgleichs fehlten, da Treffen mit Freunden und Sportangebote reduziert waren – dafür stand jede Menge Zeit mit der Familie auf dem Plan. Ausgerechnet den Menschen also, von denen sich viele junge Erwachsene doch abnabeln wollen. Miriam Hoff kennt all diese Sorgen aus ihrer Praxis.
Die 46-Jährige ist approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Frankfurt am Main, ihr Schwerpunkt sind Teenager, die sie auch über ihren Account auf Tiktok berät.
Im Gespräch mit watson erklärt Miriam Hoff, warum die Corona-Lockdowns für die Entwicklung Jugendlicher besonders problematisch waren und was junge Erwachsene jetzt erst einmal nachholen müssen.
watson: Wie erleben Sie Jugendliche seit der Corona-Pandemie?
Miriam Hoff: Die psychischen Belastungen waren für Jugendliche in der Corona-Zeit massiver als für kleine Kinder. Ab etwa zwölf Jahren stellt sich für Menschen die zentrale Aufgabe, sich von der Kernfamilie weg zu entwickeln und die eigene Identität zu finden. Es ist gesund und richtig, dass sich Jugendliche in dieser Phase an ihren Peer-Gruppen messen und sich fragen: Wer bin ich? Wo will ich hin? Und auch: Wer bin ich nicht? Antworten auf diese Fragen erfährt man nur in der Auseinandersetzung mit anderen. Das ist in den vergangenen anderthalb Jahren aber nur eingeschränkt möglich gewesen.
Was hat es für psychische Konsequenzen?
Durch diese nicht erfüllte Entwicklungsaufgabe ist ein großer Leidensdruck entstanden, der dem einen oder anderen jetzt vielleicht noch nicht einmal bewusst ist. Konflikte mit anderen konnten nicht gelöst werden, sondern wurden für sich behalten, dann brodelt es im Inneren. Ich erlebe die Jugendlichen vor allem unzufrieden und frustriert. Diese Gefühle sind üblich, doch normalerweise gibt es Ventile für sie, um sie zu kompensieren. Diese Ventile fielen durch Corona weg.
Wie meinen Sie das?
Unsere Psyche hat bestimmte Anlagen: Ein Mensch neigt beispielsweise eher zu Aggression, der andere eher zu Depression. Diese Neigung kann normalerweise in anderen Bereichen des Lebens gut kompensiert werden und jeder von uns hat seine eigenen Wege, damit umzugehen. Einige nutzen Sport, um Wut loszuwerden, wieder andere treffen sich mit Freunden oder engagieren sich sozial und verschaffen sich so Glücksgefühle. Wenn das aber alles nicht möglich ist, dieses System zum mentalen Ausgleich zusammenbricht, dann kommen latent vorhandene Probleme zum Vorschein.
Verheerend war Corona also vor allem für vorbelastete Jugendliche?
Ja, das ist wie mit Erkältungen, die bekommt auch eher derjenige, der schon angeschlagen ist und dessen Immunsystem nicht gut funktioniert. Wer vor Corona eine sehr gesunde Psyche hatte, konnte auch die Krise gut aushalten. Aber viele, die ein wenig vorbelastet sind, sind tiefer in ihre Probleme versunken.
Wie äußert sich das jetzt nach Corona?
In psychischen Störungen. Ich bekomme mit, dass viele Jugendliche nicht ausgelebte Konflikte in Auto-Aggression umwandeln, im Extremfall verletzen sie sich selbst. Auch Essstörungen sind verbreitet und wieder andere verfallen in eine Art Lethargie. Denen fällt es jetzt sehr schwer, wieder zurück ins Leben zu finden.
Das heißt, die Lockerungen sind für sie eine besondere Herausforderung?
Sie haben zumindest Startschwierigkeiten, jetzt, wo es langsam wieder losgeht. Gerade Jugendliche mit sozialen Ängsten konnten sich anderthalb Jahre in ihrem Elfenbeinturm zurückziehen. Sie müssen erst wieder lernen, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen oder sich in der Schule zu melden.
Sie sagten eben, zum Erwachsenwerden gehört auch die Wegentwicklung von der Kernfamilie. Im Lockdown hockte man aber permanent zusammen. Wie gingen die Jugendlichen damit um?
Sie haben sich vermehrt in ihre Zimmer zurückgezogen, um Distanz zur Familie zu schaffen und Privatsphäre zu haben. Viele haben sich durch die sozialen Medien ihre eigene Welt geschaffen, um einen Raum außerhalb der eigenen Familie haben zu können. Das ist nur natürlich, aber es ersetzt nicht die physische Begegnung, die nötig ist, um sich zu entwickeln. Alleine im Zimmer zu sitzen und auf den Rechner zu schauen ist leider auch etwas sehr Passives, sehr Isoliertes.
Da Schule und selbst Treffen mit Freunden vor allem am Bildschirm stattfanden: Was macht das mit der Psyche?
Tatsächlich kann das der Selbstwahrnehmung schaden. Beim Homeschooling oder Videocalls mit Freunden sahen sich die Jugendlichen permanent selbst in einem kleinen, auch noch oft unvorteilhaft verzerrten Bild, in der Ecke. Das ist, als würde man ständig mit einem Spiegel in der Schule sitzen. Jugendliche betrachten sich sowieso oft sehr kritisch. Sich ständig selbst anzuschauen, hat dabei nicht geholfen.
Zudem wurde mehr Zeit auf Instagram und ähnlichem verbracht, wo Jugendliche mit dem unerreichbaren Ideal von super skinny, aber gleichzeitig Kurven an entsprechenden Stellen, zugebombt werden. Wenn man nicht unheimlich stabil ist, führt das zu Selbstzweifeln. Ich habe Mädchen erlebt, die wunderbare, gesunde Körper haben, aber sich nicht annehmen können. Sie denken: Ich kann immer noch besser werden, noch trainierter und noch schöner. Diese Zweifel enden durchaus in Essstörungen und Körperschemastörungen.
Ging die Corona-Krise Abschlussklassen an Schulen noch einmal besonders nahe?
Ich habe vor allem mit Abiturienten zu tun und fand es sehr auffällig, wie entsetzt diese vor allem über den Wegfall aller Feierlichkeiten waren. Die Mottowoche, der Ball: All diese Rituale des Abschieds aus der Schule fielen für sie weg. Da ging es nicht nur um Partys, sondern auch den rituellen Abschluss einer großen Lebensphase – der Schulzeit. Wer zwölf, dreizehn Jahre lang Schüler war, sehnt sich nach einem offiziellen Abschied ins "Erwachsenensein". Es ist eine Form von Wertschätzung, wenn alle sich zum Ball aufrüschen und die Eltern stolz klatschen, wenn das Zeugnis überreicht wird. Diese Momente kriegen die jungen Menschen niemals zurück.
Insgesamt gab es wenig Highlights seit der Pandemie. Sind die für Jugendliche besonders wichtig?
Für uns alle sind schöne, feierliche Momente wichtig, weil sie uns Energie spenden. Für Jugendliche ist aber besonders bitter, dass sie gewisse Erlebnisse nicht nachholen können. Auch der 18. Geburtstag, die Feier der Volljährigkeit, ging durch Corona bei vielen Jugendlichen unter. Statt der Riesenparty gab es dann nur einen Sekt auf der Couch. Das ist kein Weltuntergang, aber es ist schon traurig, wenn man sich in einer so wichtigen Phase des Lebens nicht "gefeiert" fühlt, denn diese Zeit kommt nie wieder.
Der missglückte Abschied aus der Schule ist das Eine. Aber wie erging es jungen Menschen danach?
Auch nicht besser. Viele saßen die ersten Semester an der Uni vor allem alleine vor dem Rechner in ihrem WG-Zimmer. Andere, die ein Auslandsjahr geplant hatten, mussten es abbrechen oder konnten gar nicht erst los. Das ist ein großes Frustrationserlebnis: Man freut sich, endlich autonom zu sein und erste Schritte ins Erwachsenenleben zu machen und dann sitzt man isoliert in der Fremde oder noch schlimmer – muss zurück ins Kinderzimmer ziehen. Das ist zutiefst demotivierend und entmutigend.
Wird das "Erwachsenwerden" für die Corona-Generation also länger dauern?
Ich kann nicht in die Zukunft schauen, aber natürlich hat bei einigen jungen Menschen durch alle bereits genannten Gründe eine verzögerte Autonomieentwicklung stattgefunden. Unter Corona sind viele Dinge nicht geschehen, die wichtig gewesen wären: die Ablösung aus dem Elternhaus, das Knüpfen erster Kontakte ins Berufs- und Studienleben. Das muss tatsächlich nachgeholt werden.
Was wäre ihr Rat an die Politik in Bezug auf Jugendliche?
Jugendliche und junge Menschen wollen sich austauschen und messen. Beim Sport hat man den Effekt sehr gut gesehen: Als Wettkämpfe abgesagt wurden, ging die Motivation den Bach runter. Wozu auch trainieren, wenn es kein Ziel gibt? Sollte die Pandemie noch länger weitergehen, ist es daher wichtig, den Jugendlichen auch im Lockdown Räume zu lassen, in denen sie sich begegnen können. Für keine andere Altersgruppe ist es so wichtig, Interaktion nach Außen zu haben, um sich gesund zu entwickeln. Dieser Faktor ist zu sehr vernachlässigt worden.