Julian Reichelt ist die Ausnahme. Die allermeisten Menschen nutzen ihr Büro, um dort der Arbeit nachzugehen, sich über streikende Drucker zu echauffieren und mehr Zeit am Wasserspender zu verbringen, als Carsten Linnemann lieb wäre. Reichelt aber, ehemaliger "Bild"-Chefredakteur, hatte ein Feldbett in seinem Büro stehen. "Nirgendwo sonst schläft man so gut", sagte er einmal.
Weil nun aber – zum Glück – die allermeisten Büros nachts leer stehen, allerdings nicht alle Menschen das Privileg haben, in ihren eigenen vier Wänden zu wohnen, hatte das französische Netzwerk "Bureaux du cœur" eine Idee: Warum sollten die ohnehin leeren Räume nicht genutzt werden können? Auf Deutsch: Büro mit Herz.
Wenn die Angestellten abends gehen, ziehen andere ein. Wohnungslose Menschen, die sonst auf der Straße oder bei Bekannten schlafen würden. Der Ursprung des Projekts liegt in Nantes, bei einem Marketingunternehmer, der sich fragte, warum leere Büroräume nicht jenen helfen könnten, die dringend ein Dach über dem Kopf brauchen. Heute machen 260 Firmen in rund 30 Städten mit. Die Auswahl der Gäste erfolgt in enger Kooperation mit Hilfsorganisationen.
Voraussetzung: Die Person muss alleinstehend, volljährig, nüchtern und psychisch wie gesundheitlich stabil sein. Außerdem muss sie an in einem Integrationsprogramm teilnehmen, das ihr den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern soll. Zwar ist die Hilfe befristet, die Wirkung aber nachhaltig: Rund 90 Prozent der Teilnehmenden finden im Anschluss eine eigene Wohnung und Arbeit.
In Deutschland hingegen blickt man skeptisch auf das Modell. Nicht weil man es für falsch hält, sondern weil der Weg dahin steinig ist. Matthias Bianchi vom Deutschen Mittelstands-Bund nennt es gegenüber dem "RND" "grundsätzlich vorstellbar", verweist aber auf "erhebliche rechtliche und organisatorische Herausforderungen". Die Nutzung eines Büros als Schlafstätte bedarf hierzulande einer Genehmigung – und nicht selten baulicher Veränderungen.
Axel Quester vom Immobilienverband Deutschland betont beim "RND": "Es braucht engagierte Eigentümer, unterstützende Makler und eine wohlwollende Verwaltung." Vor allem der Brandschutz und Hygienevorschriften stellen hohe Hürden dar. Hinzu kommen versicherungsrechtliche Fallstricke, etwa zur Haftung und zum Datenschutz.
Zudem steht Deutschland mit dem Konzept "Housing First" für einen anderen Ansatz: fester Wohnraum ohne Bedingungen, ergänzt durch soziale Unterstützung.
Dieses Modell ist weit verbreitet, scheitert aber oft am Mangel bezahlbarer Wohnungen. Hilfsorganisationen wie die Diakonie weisen zudem darauf hin, dass viele derjenigen, die von "Bureaux du cœur" profitieren könnten, gar nicht alle Kriterien erfüllen. Weil sie beispielsweise nicht stabil genug sind oder bereits verdeckt wohnungslos sind.