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Islam-Feindlichkeit: Warum Ignoranz gegenüber der Religion so gefährlich ist

Melina Borčak hat ein Buch über Vorurteile und Rassismus gegenüber Muslim:innen und dem Islam geschrieben.
Melina Borčak hat ein Buch über Vorurteile und Rassismus gegenüber Muslim:innen und dem Islam geschrieben.bild: privat
Interview

Mekka hier, Mekka da: Warum Ignoranz gegenüber dem Islam gefährlich ist

20.09.2023, 19:30
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Deutschland ist im Jahr 2023 das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt. Viele verschiedene Kulturen und Religionen leben auf engstem Raum zusammen – leider nicht immer friedlich. Ein Bericht des Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM) im Auftrag des Bundesinnenministeriums zeigte beispielsweise, dass Muslimfeindlichkeit im Jahr 2023 in Deutschland weit verbreitet ist.

Melina Borčak kennt das Problem – privat und beruflich: Die bosnische Muslima ist Filmemacherin, Journalistin und Medienkritikerin. In ihrem neuesten Buch "Mekka hier, Mekka da" will sie zeigen, wie Sprache rassistische Denkmuster in unseren Köpfen verfestigt und welche Folgen das für Muslim:innen und unser gesellschaftliches Zusammenleben hat.

Im Gespräch mit watson erklärt Borčak, warum so falsch über Muslim:innen gesprochen wird und erklärt, wie wir unsere Denkmuster hinterfragen können.

Melina Borčaks Schwerpunkte sind (antimuslimischer) Rassismus, Genozid und muslimischer Feminismus.
Melina Borčaks Schwerpunkte sind (antimuslimischer) Rassismus, Genozid und muslimischer Feminismus.bild: privat

Watson: Was sagst du zu den aktuell hohen Umfragewerten der AFD mit 34 Prozent?

Melina Borčak: Das liegt natürlich an vielen Faktoren. Aber ein riesiger Teil davon ist auf Kosten von muslimischen Menschen und der ganzen rassistischen Hetze, die die AfD betreibt, entstanden.

"Geht doch mal nach Ägypten und fragt die Leute, die ihr Leben riskiert haben, um die Diktatur von Mubarak zu stürzen, ob sie kompatibel sind mit Demokratie."

Warum ist diese Unwissenheit und Ignoranz gegenüber der muslimischen Welt, wie du im Buch schreibst, sogar gefährlich?

Es gibt sehr viel Hetze und Gewalt gegen Muslime, ob es jetzt Brandanschläge sind gegen Moscheen oder Angriffe auf einzelne Menschen. Das ist ein riesiges Problem in Deutschland. Die letzte Polizei-Statistik, die ich kenne, sagt, es gab mehr als 1000 rassistische Angriffe gegen Muslime in einem Jahr. Und wir wissen, dass die Polizei oft Taten, die von der Community als rassistisch gesehen werden, wo es sogar Bekennerschreiben gibt, nicht als rassistisch einstuft. Viele Sachen werden gar nicht gemeldet, die Dunkelziffer ist bestimmt größer.

Auch zum Koran gibt es viel Unwissen, oft wird dessen Inhalt falsch dargestellt.

Der Koran wurde nicht verändert, sondern falsch interpretiert. Es gibt da zum Beispiel einen Satz: Wenn du mit deiner Frau streitest, dann kannst du sie schlagen. Das Ding ist das Wort "schlagen". Heute, nach über 1000 Jahren, bedeutet es im heutigen Arabisch "schlagen". Aber damals, als es geschrieben wurde, bedeutet es, "trennen". Das gleiche Wort wird im Koran benutzt, um zu sagen, dass Moses das Meer geteilt hat. Wir wissen alle, er hat es getrennt, er hat es nicht geschlagen. Wir wissen also, dass im Koran dieses Wort benutzt wird für trennen. Also wenn du Probleme in der Ehe hast, trenn' dich vielleicht. Das wird aber interessanterweise einerseits von antimuslimischen Rassisten und andererseits von sexistischen misogynen Muslimen für ihre Ziele missbraucht.

Du kritisierst, wie unreflektiert Medien über Muslim:innen und Gewalt gegen sie schreiben. Hast du das Buch deshalb geschrieben?

Für mich hat das, was in den Medien berichtet, beziehungsweise nicht berichtet wird, einen riesigen Einfluss auf die Politik, auf die Gesellschaft und unsere Realität. Der Genozid an Bosniaken ist einfach komplett aus dem kollektiven Gedächtnis von Europa verschwunden. Ich meine, Bosnien ist fünf oder sechs Stunden Autofahrt von Deutschland, es ist mitten in Europa und da sind in den Neunzigern 100.000 Menschen gestorben – allein im kleinen Bosnien, das weniger Einwohner hat als Berlin. Wenn man mehr über den Genozid wissen würde, würden sich auch viele dieser Kerngedanken über den Islam und über Europa total auf den Kopf stellen.

Inwiefern?

Wir sind europäische Muslime, uns kann man nicht weiter weg abschieben, unsere einzige Heimat ist Europa. Es werden immer Fragen gestellt, wie: Ist der Islam kompatibel mit unseren Werten, mit Europa? Und ich denke mir, wir sind dasselbe, wir sind europäische Werte, wir sind Europa und wir werden einfach raus definiert. Stattdessen wird immer wieder gesagt "75 Jahre Frieden in Europa", was absolut nicht stimmt. Allein Serbien hat in den Neunzigern vier verschiedene Länder angegriffen, inklusive vier Jahren Genozid an bosnischen Muslimen. Und der Krieg in der Ukraine fing auch schon 2014 an. Wenn man mehr darüber lernen würde, würde sich alles auf den Kopf stellen, was man in Talkshows über "die Muslime" erzählt.

Vor allem, weil der Westen diese Strukturen durch den Kolonialismus mit aufgebaut hat.

Die meisten muslimischen Länder haben jahrhundertelang Kolonialismus ausgehalten, der erst vor 40 bis 50 Jahren endete. Die ganzen kolonialen Strukturen sind immer noch da und viele Länder sind auch in Diktaturen. Aber wir sehen, was im Iran oder während des Arabischen Frühlings passiert und dann wird gefragt: Ist der Islam kompatibel mit Demokratie? Geht doch mal nach Ägypten und fragt die Leute, die ihr Leben riskiert haben, um die Diktatur von Mubarak zu stürzen, ob sie kompatibel sind mit Demokratie. Das ist eine unglaubliche Beleidigung. So viele Menschen sind gestorben, um Demokratie zu erreichen. Wer hat denn Mubaraks Regime über Jahrzehnte lang unterstützt? Die USA, die EU und so weiter. Die sollte man eher nach ihrem Demokratieverständnis fragen.

Welche falsch genutzten Begrifflichkeiten in Bezug auf den Islam ärgern dich am meisten?

Für mich ist immer wichtig, dass die Leute wissen, dass es um viel mehr als Begriffe geht, sondern auch um Kontextualisierung und Framing, in welcher Reihenfolge man Sachen erzählt und welche überhaupt. Aber wenn es um Begriffe konkret geht, dann vielleicht Fatwa.

Warum Fatwa?

Fatwa wird immer dargestellt, als ob das irgendein ominöses Todesurteil ist. Aber Fatwa ist eigentlich nur ein Urteil von Gelehrten, egal welchen Geschlechts, die über ein bestimmtes Thema aufklären. Es gibt vor allem in Indonesien ganz viele Fatwas über Natur- und Tierschutz. In Bosnien gibt es jetzt schon seit 15 Jahren eine Fatwa darüber, dass man Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung keine Gewalt antun darf. Als der erste muslimische Astronaut ins Weltraum geflogen ist, haben sich über 150 Gelehrte getroffen und besprochen: In welche Richtung soll er beten, wenn er nicht auf der Erde ist und wann soll er fasten, etc.? Das sind auch Fatwas.

"Man sollte sich überlegen, welche Stereotype es gibt und ob man diese gerade bekräftigt."

Und der zweite Begriff?

Das ist Genozid. Die meisten Leute verstehen nicht mal, was die Definition von Genozid ist und denken, das bedeutet "viel morden". Aber Morden ist eine von den Methoden, durch die man Genozid machen kann. Andere Methoden sind zum Beispiel Zwangssterilisierung oder das Kreieren von Umständen, die ein Überleben unmöglich machen. Viele Leute denken: "Es werden nicht so viele Uiguren ermordet und deshalb ist das kein Genozid", aber sie werden zwangssterilisiert. Genozid bedeutet, vereinfacht gesagt, eine oder mehrere Taten mit der Absicht, eine bestimmte Gruppe auszurotten. Die Absicht der Ausrottung ist der schlagende Punkt.

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Wie macht man sich rassistische Denkmuster bei sich selbst bewusst?

Das erste ist, die Leute nicht alle über einen Kamm zu scheren und mit Analogien zu überlegen: Wäre diese Aussage okay, wenn sie gegenüber einer anderen Gruppe wäre? Zum Beispiel, wenn ich jemand fundamentalistischer, konservativer oder liberaler Christ nennen würde. Bei Muslimen gibt es nicht zehntausend dieser Abstufungen, sondern es ist einfach: Islamisten und Gemäßigte. Und wenn man nicht gemäßigt ist, ist man sofort Islamist. Als ob wir, nur wenn wir gemäßigt , nur wenn wir unter Kontrolle sind, okay sind. Ansonsten sind wir eine Gefahr. Aber vielleicht ist man konservativ oder ultra-konservativ, da gibt es auch viele Abstufungen. Man sollte sich überlegen, welche Stereotype es gibt und ob man diese gerade bekräftigt.

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