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Ukraine-Krieg: Wie sollten wir mit den schrecklichen Bildern von Toten umgehen?

Eine ukrainische Frau weint, als sie von der russischen Besatzung ihrer Stadt Borodyanka, in der Nähe von Kiew, erzählt.
Eine ukrainische Frau weint, als sie von der russischen Besatzung ihrer Stadt Borodyanka, in der Nähe von Kiew, erzählt.Bild: NurPhoto / Maxym Marusenko
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Bilder von Leichen und Zerstörung: Wie sollten wir mit Schreckensmeldungen aus der Ukraine umgehen? Experte gibt Rat

16.04.2022, 16:0808.06.2022, 17:15
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Je länger der Krieg dauert, desto schlimmer die Bilder in den Nachrichten: Waren es anfangs noch Videos von zerstörten Gebäuden, Bombenexplosionen und brennenden Atomkraftwerken, häufen sich nun immer erschreckendere Gräueltaten. Bilder von Tod, Verzweiflung und Folter, wie in den Städten Butscha oder Borodjanka.

Diese Bilder sind schwer zu ertragen, aber notwendig, findet Dr. Uwe Baer. Der Diplom-Pädagoge und Gesundheitswissenschaftler hat mit seiner Frau und Traumatherapeutin Gabriele Frick-Baer mehrere Bücher zum Thema Trauma und Flucht verfasst. Auch, wie man mit Traumata oder schweren Belastungen umgeht, thematisiert das Autorenpaar. Sie sind die Begründer des Konzepts "Kreative Leibtherapie".

Watson hat mit Uwe Baer darüber gesprochen, wie man einen gesunden Umgang mit den schrecklichen Bildern und Nachrichten finden kann und welchen Nutzen Hilflosigkeit und Ohnmacht haben können.

Baer Udo
Dr. Uwe Baer ist Mitautor des Buchs "Flucht und Trauma".privat / fotostudio_charlottenburg

watson: Herr Baer, wie kann man denn mit den traumatischen Nachrichten und Bildern aus der Ukraine umgehen? Gerade, wenn man den Medienkonsum nicht einschränken kann oder will.

Uwe Baer: Diese Bilder setzen sich in den Menschen fest. Sie verblassen zwar im Laufe der Zeit, aber erst mal sind sie fest drin und haben eine Wirkung. Und die Wirkung ist Angst, Unruhe, Unsicherheit, manchmal Schrecken, manchmal Traurigkeit oder Hilflosigkeit und Ohnmacht. Ich habe es mir angewöhnt, abends vor dem Schlafengehen keine Nachrichten mehr zu schauen, damit diese Unruhe nicht so in die Nacht reinkommt. Aber das Wichtigste ist erstmal, die Folgen dieser Bilder und Nachrichten auch ernst zu nehmen. Nicht einfach zu versuchen, die Angst und den Schrecken und diese Folgen wegzudrücken, sondern erst mal zu würdigen und zu respektieren, dass die da sind. Sonst kommen die später wieder – nachts um drei oder sonst wann.

"Die Hilflosigkeit hat einen Sinn, nämlich dass wir Hilfe suchen und Ohnmacht hat den Sinn, dass wir etwas machen."

Also man muss die Gefühle erst einmal zulassen, auch wenn sie unangenehm sind?

Genau. Ja, das ist erschreckend und ja, das ist bestürzend. Und es ist auch nicht alles zu erklären, was da passiert. Manchmal sind wir fassungslos. Das zu akzeptieren hilft, weil es dem Schrecken ein bisschen Macht nimmt. Und das zweite ist, dass man damit nicht alleine ist. Darüber zu reden, mit Leuten, denen man vertraut, ist ganz, ganz wichtig. Weil das erleichtert, das lässt ein bisschen Schrecken raus. Das ist wirklich hilfreich. Der dritte Tipp ist: Das Gegenteil von Ohnmacht ist nicht Macht, sondern Machen.

Wie meinen Sie das genau?

Wir haben keine Macht, den Krieg zu beenden. Wir haben keine Macht, dafür zu sorgen, dass nicht Millionen von Flüchtlingen unterwegs sein müssen. Wir haben keine Macht, dass Menschen nicht erschossen und Frauen nicht vergewaltigt werden. Das müssen wir akzeptieren. Aber wir können etwas machen. Wir können solidarisch sein, wir können Geld sammeln und wir können Menschen, die hier sind, unterstützen. Wir können aber auch den Oppositionellen in der Ukraine oder in Russland Unterstützung zukommen lassen, Trost und Zuspruch. Mir hilft das Machen, aus dem eigenen Ohnmachtsgefühl rauszukommen. Die Hilflosigkeit hat einen Sinn, nämlich dass wir Hilfe suchen und Ohnmacht hat den Sinn, dass wir etwas machen.

"Man muss die eigenen Gefühle und die Folgen ernst nehmen. Und dann merkt man, wann es zu viel wird."

Man hat das Gefühl, die Bilder, die gezeigt werden, sind grausamer als früher. Ist das schlecht, weil man sich dann eher abwendet oder abstumpft? Oder ist es derzeit einfach notwendig, die ganze brutale Realität zu zeigen?

Ich halte es für notwendig, dass auch Schreckensbilder gezeigt werden, damit wir auch Mitgefühl haben können und mitleiden können. Darüber können wir auch ins solidarische Handeln kommen. Das Ausmaß der Bilder finde ich aber oft zu viel. Aus dem Krieg damals in Ruanda oder jetzt aus dem Jemen gibt es kaum Bilder. Aber die Ukraine ist näher und es ist immer eine Frage, wie der Zugang der Medien da ist. Ich finde, es kann sonst abschrecken und man kann sonst abstumpfen. Also man sollte auch in den Medien versuchen, ein bisschen zu dosieren.

Präsident Selenskyj verleiht einem toten Soldaten der ukrainischen Streitkräfte einen Staatsorden.
Präsident Selenskyj verleiht einem toten Soldaten der ukrainischen Streitkräfte einen Staatsorden.Bild: abaca / ABACA

Was wäre denn ein Zeichen dafür, dass es einem gerade zu viel wird und man vielleicht mal eine Pause machen sollte?

Wenn man Unbehagen bekommt. Manchmal ist es auch ein Zeichen, wenn manche Menschen, auch gerade junge, richtig süchtig werden nach Bildern und gar nicht mehr aufhören können. Das ist wirklich ein Alarmsignal. Gerade in den Anfangstagen des Krieges war es so, dass manche ständig im Internet dies und jenes geguckt haben – den Film noch und die Leiche und sowas. Man muss die eigenen Gefühle und die Folgen ernst nehmen. Und dann merkt man, wann es zu viel wird.

"Mitgefühl ist ein gutes Gefühl. Wenn das zu Tränen führt oder auch ein bisschen zu Angst, dann ist das auch normal."

Aber dass man weinen muss oder Angst bekommt, wäre jetzt noch nicht so problematisch?

Nein. Mir macht das auch Angst. Das ist auch traurig, wenn ich Kinder auf der Flucht aus der Ukraine sehe, die nicht weinen, weil die Gesichter so Schreckens erstarrt sind. Da habe ich manchmal die Tränen in den Augen, die die Kinder nicht weinen können. Aber das ist Mitgefühl. Das ist eine wunderbare menschliche Fähigkeit, dass wir mit dem Leid anderer Menschen mitfühlen können. Mitgefühl ist auch der Kitt unserer Gesellschaft. Die Mörder, die Täter haben kein Mitgefühl mit dem Leid der anderen. Die hauen einfach drauf oder schießen los. Wer Mitgefühl hat, ist auch gebremst und tut anderen nicht weh, weil er die Schmerzen der anderen mit spürt. Da können wir zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen.

Und wann wird es zu viel Mitgefühl?

Mitgefühl ist ein gutes Gefühl. Wenn das zu Tränen führt oder auch ein bisschen zu Angst, dann ist das normal. Wir sind so. Lachen steckt an, Weinen steckt auch an. Das einzige Kriterium, dass es zu viel ist, wäre, wenn wir anfangen, darunter zu leiden oder wenn der Alltag nicht mehr so funktioniert: Also wenn wir bestimmte Bilder nicht mehr aus dem Kopf rausbekommen, wir nachts aufwachen, nicht gut schlafen können oder unkonzentriert sind. Da sollte man aufpassen, dass man ein bisschen runterfährt.

Wie ist das mit den Menschen, die selber aus der Ukraine geflohen sind? Ist es dann besser, erst mal eine Zeit lang die Nachrichten nicht zu verfolgen, falls man traumatisiert ist?

Das geht nicht. Jeder, der flieht, lässt Menschen zurück. Also das war im Irak, in Syrien und Afghanistan so. Und das ist auch in der Ukraine so. Das ist meine Erfahrung aus den letzten vielen Jahren, die ich jetzt mit geflüchteten, traumatisieren Menschen arbeite und sie begleitet habe. Die wollen wissen, was mit ihren Vätern oder was mit Oma oder Opa ist, die nicht mitkommen konnten, weil sie zu schwach sind für so eine lange Reise. Die wollen das wissen und das hat eine große Sogwirkung. Auch die Flüchtlinge 2015/16 waren ständig am Handy. Das ist die Verbundenheit und das ist deren Mitgefühl zu den Verwandten und Freunden, zu den Nachbarn. Ja, es wäre besser, sich nicht allzu viel von dem Schrecken anzutun, aber ich halte das für unerlässlich.

"Wir sollten hier auch tanzen und lieben, feiern und genießen. Wir brauchen auch das Gegenteil."

Ja, das klingt nachvollziehbar.

Wichtig ist, dass es auch das Gegenteil gibt von diesen Bildern, also gute Bilder. Sowohl für die Geflüchteten, dass sie selbst auch tanzen, feiern und gut essen können. Oder dass sie die Natur sehen, sich am Sonnenschein erfreuen und freundliche Gesichter sehen. Also, dass die Menschen auch das Gegenteil von Angst und Schrecken sehen. Und das gilt für uns auch. Wir sind hier in Deutschland privilegiert. Wir haben keinen Krieg und manche schämen sich, dass sie dieses Privileg haben. Aber ich finde es gut: Wir sollten hier auch tanzen und lieben, feiern und genießen. Wir brauchen auch das Gegenteil. Das geht nicht auf Kosten von Unterstützung und Solidarität, es kann sich ergänzen. Manchmal, wenn der Schrecken zu groß wird, können Pausen die Unterstützung auch erst ermöglichen.

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Auch mitten im Krieg wird geliebt und geheiratet – hier in Kiew.Bild: SOPA Images via ZUMA Press Wire / Mykhaylo Palinchak

Sie haben jetzt schon positive Geschichten erwähnt: Derzeit wird kritisiert, dass die Gegengewalt glorifiziert wird, also dass man Widerstandskämpfer feiert oder dass Soldatinnen, die sich direkt im Schützengraben mit Waffen in Szene setzen. Ist das auch so eine Art, mit der eigenen Überforderung umzugehen?

Ja, auch. Zum einen ist es normal, dass wir uns mit Menschen, die Gutes tun, auch identifizieren. Das gehört zur Menschheit. Auch da geht es wieder um das Maß. Und heute ist diese Identifikation einfach bildhaft. Es gibt ja kaum etwas, wo keine Kamera drauf gehalten wird. Das entspricht anscheinend den Menschen und dann passiert es auch, dass Menschen sich im Schützengraben fotografieren und filmen und man sich damit identifizieren kann.

Da es ja so viele private Kanäle zum und über den Krieg oder mitten aus dem Kriegsgebiet gibt: Sollte man lieber "traditionellen" Medien folgen, um nicht von zu grausamen Bildern überrascht zu werden?

Kinder und Jugendliche sollten das in jedem Fall vermeiden. Kinder bis ins Grundschulalter sollten Kindernachrichten wie "ZDF Logo" gucken, die mehr mit Zeichnungen statt mit Bildern arbeiten. Das ist dosiert und gut erklärt. Ältere Kinder, so mit zehn oder elf Jahren, haben ja meistens ein eigenes Handy und damit selber Zugang. Da sollte man Möglichkeiten schaffen, dass jemand Erwachsenes beim Nachrichtenschauen dabei ist und immer anbieten, darüber zu reden. Manche Kinder fragen, manche haben aber keine Worte, wenn sie erschrecken und Angst haben. Die sind dann verstört, ein bisschen durcheinander oder sonst wie überfordert. Und da müssen wir Erwachsenen nachfragen.

Und Erwachsene?

Bei Erwachsenen muss jeder selber seinen Weg finden. Ich dosiere meinen Nachrichtenkonsum, mir macht es sonst zu viel aus. Ich möchte informiert sein. Und ich sehe schon manchmal Bilder, die mich erschrecken, auch in Nachrichtensendungen oder im Internet, aber ich schaue mir nicht die aktuellen Kriegsbilder aus der Ukraine an.

"Das hängt immer auch von den individuellen Erfahrungen und Dispositionen ab, wofür man empfindsam ist."

Glauben Sie, dass Triggerwarnungen notwendig sind? Manche kritisieren, dass diese teilweise schon inflationär verwendet werden.

Ja, oft finde ich das etwas übertrieben. Manche reizt das ja, erst recht hinzuschauen. Allgemein ist es zwar schon gut, da auch zu warnen. Aber es gibt immer Wellen, da wird das von allen ganz viel gemacht, bis es keiner mehr registriert und dann flaut die Welle wieder ab. Das ist gerade so eine Welle, aber generell ergibt das schon Sinn.

Also Triggerwarnungen würden nur Sinn ergeben, wenn man explizit gewaltsame Szenen schildert?

Ja, genau. Wobei das auch sehr unterschiedlich ist: Wenn ich zum Beispiel auf einem Bild eine alte Frau vor ihrem zerstörten Haus sehe, dann ist das ja keine Gewaltsituation, aber die Atmosphäre ist gewalttätig und die kommt bei mir an. Ich bin selber kurz vor der Mauerbau als Kind aus der DDR geflohen. Wenn ich Flüchtlinge und Flüchtlingskinder sehe, kommt das noch mehr bei mir an, als wenn Leute aufeinander schießen oder im Schützengraben stehen. Also hängt das immer auch von den individuellen Erfahrungen und Dispositionen ab, wofür man empfindsam ist. Da gibt es keine allgemeingültige Regelung, die Menschen sind dafür viel zu verschieden.

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