Einmal im Jahr treffen sich Wissenschaftler und Experten aus der ganzen Welt, um über den globalen Kampf gegen HIV und Aids zu sprechen. Bei der diesjährigen Aids-Konferenz 2022 im kanadischen Montreal deutet sich bereits kurz vor Ende am Dienstag ein bitteres Fazit an: Die Eindämmung des Coronavirus überlagert momentan den Kampf gegen HIV – und das hat Konsequenzen.
"Im Rahmen der Corona-Pandemie ist es international zu dramatischen Reduktionen von HIV-Test- und Beratungseinrichtungen gekommen", sagt Jürgen Rockstroh, Professor am Universitätsklinikum Bonn im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. "Notwendige Laborkontrollen wurden gestreckt. Engpässe in der Medikamentenversorgung sind vielfach berichtet worden. Zudem haben sich viele Forscher – aber auch Public-Health-Kollegen – auf Covid konzentrieren müssen, sodass für HIV viele Ressourcen verloren gegangen sind."
Die Zahlen spiegeln das wider: Der Kampf gegen HIV und Aids sei weltweit ins Stocken geraten, heißt es in einem aktuellen Bericht des UN-Programms für den Kampf gegen Aids (UNAIDS). In einigen Regionen, in denen die Zahl der Neuinfektionen zuvor gesunken war, stieg sie nun erneut. Weltweit hätten sich im vergangenen Jahr rund 1,5 Millionen Menschen neu mit dem HI-Virus infiziert. Unter anderem in Osteuropa, Teilen Asiens, Lateinamerika, dem Nahen Osten und Nordafrika sei die Zahl der Neuinfektionen gestiegen.
Neben der Corona-Pandemie bereiteten auch der Krieg in der Ukraine, das vermehrte Auftreten von Affenpocken und die schwierige weltwirtschaftliche Lage Sorgen. Es fehlt an Geld, Kapazitäten und Medikamenten und das hat Auswirkungen für die Erfassung und medizinische Betreuung von HIV-Infizierten weltweit.
Was bedeutet diese komplizierte Lage für Deutschland? Darüber hat watson mit Holger Wicht gesprochen. Er ist Sprecher der Deutschen Aidshilfe und vor Ort auf der Konferenz in Montreal.
Watson: Herr Wicht, sind die Lieferengpässe wichtiger HIV-Medikamente auch in Deutschland spürbar?
Holger Wicht: In Deutschland gibt es keine Lieferengpässe bei HIV-Medikamenten. International jedoch erhalten noch immer rund 10 Millionen Menschen die lebensrettenden Medikamente nicht. Auch der Krieg in der Ukraine hat die Versorgung von Menschen mit HIV-Medikamenten und Substitutionstherapie, beispielsweise bei Opioidabhängigkeit, teils gefährdet oder unterbrochen.
Die Labore waren vollauf mit der Coronapandemie beschäftigt. Hatte das Konsequenzen für HIV-Infizierte?
In Deutschland sind uns bezüglich der medizinischen Versorgung von Menschen mit HIV keine gravierenden Einschränkungen durch die Covid-19-Epidemie bekannt. Natürlich haben Praxen unter erschwerten Bedingungen gearbeitet, aber die notwendigen Untersuchungen waren weiterhin möglich. Es kam jedoch zu gravierenden Einschränkungen bei den Testangeboten bezüglich HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen.
Gesundheitsämter boten dieses Tests teilweise nicht mehr an, die Checkpoints der Aidshilfen sprangen vielfach ein, arbeiteten aber selbst unter erschwerten Bedingungen und daher oft mit geringeren Kapazitäten. Da HIV möglichst frühzeitig festgestellt und behandelt werden sollte, war das durchaus eine gravierende Einschränkung der Versorgung. Unser Projekt s.a.m health, das Einsendetests anbietet, erwies sich hier als pandemiesicheres, da kontaktloses Angebot, das für manche Menschen eine gute Alternative darstellte.
Kam es durch die Corona-Kontaktbeschränkungen zu weniger Neuinfektionen in den Jahren 2020 und 2021?
Natürlich haben viele Menschen auch ihre sexuellen Kontakte reduziert. Die Zahl der Neuinfektionen war in dieser Zeit rückläufig, allerdings gab es einen solchen Trend schon vorher. Wie viele Infektionen durch Kontaktreduzierung vermieden wurden und wie viele aus anderen Gründen, lässt sich nicht beziffern. Zu berücksichtigen ist zum Beispiel, dass seit Herbst 2019 die medikamentöse HIV-Prophylaxe PrEP von den Krankenkassen finanziert wird – eine sehr effektive Maßnahme für Menschen mit hohem HIV-Risiko. Auch das wird zur Verringerung der Infektionen beigetragen haben.
Besonders Immunschwache gelten als Corona-Risikogruppen. Was bedeutet das für HIV-Infizierte, vor allem aber Aidskranke?
Eine HIV-Infektion an sich bedeutet kein besonderes Risiko eines schweren Verlaufs einer Covid-Erkrankung. Menschen mit HIV, die rechtzeitig mit einer Therapie begonnen haben – heute der Regelfall – haben keine Immunschwäche. Zu Aids kommt es nur, wenn eine HIV-Infektion lange nicht behandelt wird, Immunschwäche kann dabei auch Resultat einer langen Krankheitsgeschichte sein.
In diesem Fall haben sich Menschen teilweise besonders vorsehen müssen. Wir hören auch von Menschen mit Vorerkrankungen, dass die jetzige Situation nicht einfach für sie ist, weil Schutzmaßnahmen weitgehend wegfallen, ihr besonderes Risiko aber noch gegeben ist. Das betrifft aber nicht unbedingt vorrangig Menschen, deren Immunschwäche mit einer langjährigen HIV-Infektion zu tun hat, sondern zum Beispiel Menschen mit Atemwegserkrankungen.
Welche aktuellen Probleme im Kampf gegen HIV und Aids sind so dringend, dass sie jetzt angegangen werden müssen?
Essenziell ist die finanzielle Ausstattung des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria. In diesem Jahr findet die "Wiederauffüllungskonferenz" für die nächsten drei Jahre statt. Benötigt werden mindestens 18 Milliarden Dollar. Auch Deutschland, bisher mit 1 Milliarde für drei Jahre dabei, muss hier seine Beiträge entsprechend der Wirtschaftskraft des Landes noch einmal deutlich erhöhen. National wie international gilt weiterhin: Stigmatisierung von Menschen mit HIV und der besonders betroffenen Gruppen muss weiterhin bekämpft werden.
Welche Probleme ergeben sich durch Stigmatisierung?
Stigmatisierung ist Gift für Prävention und Versorgung, zum Beispiel weil Menschen aus Scham nicht zum Test gehen und nicht behandelt werden können. Die "Schlüsselgruppen", wie es international heißt, brauchen Akzeptanz und passgenaue Präventionsangebote. Verfolgung und Diskriminierung, etwa von schwulen Männern und Drogen konsumierenden Menschen, sind im höchsten Maße schädlich. Auch besonders betroffene Gruppen wie junge Frauen und Mädchen, zum Beispiel im südlichen Afrika, brauchen auf sich ausgerichtete Prävention und Unterstützung.
Welche Herausforderungen muss sich besonders Deutschland stellen?
In Deutschland müssen wir die erfolgreichen Strategien ausbauen und Lücken schließen. Dazu gehören beispielsweise eine bessere PrEP-Versorgung in der Fläche, das heißt auch für kleinere Städte und ländliche Gebiete. Außerdem bundesweite sichere medizinische Versorgung von Menschen ohne Aufenthaltspapiere, Drogenkonsumräume in allen Bundesländern, saubere Spritzen und Konsumutensilien in Gefängnissen. Es ist vollkommen unverständlich, warum diese Lücken noch immer nicht geschlossen sind. Die Zahl der HIV-Infektionen in Deutschland könnte deutlich niedriger sein.
Haben Sie noch einen Appell?
Noch immer wissen rund 10.000 Menschen in Deutschland nichts von ihrer HIV-Infektion und laufen daher Gefahr, schwer zu erkranken. HIV bleibt unbehandelt auch übertragbar. Es gilt daher, Testangebote auszubauen, auch für bestimmte Gruppen und öffentlich deutlich zu machen: Es lohnt sich, frühzeitig von einer HIV-Infektion zu erfahren, im Zweifel ist ein HIV-Test immer eine gute Entscheidung.
(jd/mit Material von dpa)