
Abends Drag, tagsüber Tourguide in Budapest: Das ist das Leben von Valerie Divine.Bild: Valerie Divine / Aczél Dániel
Interview
In Ungarn wird die LGBTQ+-Community zunehmend zur Zielscheibe der Regierung. Wir haben Drag Queen Valerie Divine bei einem ihrer legendären Bingo-Abende kennengelernt und nachgefragt, wie sie das Leben als queere Künstlerin in Ungarn wahrnimmt.
13.07.2025, 14:3913.07.2025, 14:39
In Ungarn wird queeres Leben zunehmend politisiert. Die Regierung spricht von "Kinderschutz", Kritiker:innen von gezielter Ausgrenzung. Was heißt das für queere Menschen im Alltag und besonders für jene, die sich öffentlich zeigen, wie Drag Queens?
Ob als Comedy-Queen auf der Bühne oder Tourguide durch Budapest: Szabolcs Farkas aka Valerie Divine weiß, wie man Menschen begeistert. Doch hinter der glitzernden Fassade steckt eine persönliche Geschichte – über das Aufwachsen in der ungarischen Provinz, ein spätes Coming-of-Drag und die Kraft, einfach man selbst zu sein.
Im Interview mit watson erzählt sie, wie aus einem Kind mit Schauspielträumen eine preisgekrönte Drag Queen wurde und warum Drag für sie weit mehr ist als Make-up und Perücke.
watson: Wie hat deine Reise in die Welt des Drag angefangen?
Valerie Divine: Ich bin schon fast zehn Jahre als Tourguide in Budapest unterwegs, an Drag habe ich aber erst vor fünf Jahren gedacht. Ich bin in einem kleinen Ort im Osten Ungarns aufgewachsen, habe in Debrecen studiert, das ist nah an der rumänischen Grenze, und dort zum ersten Mal richtig Anschluss gefunden. Als ich später in Budapest in die queere Szene eintauchte, war es aber nicht eine Drag Queen, die mich inspiriert hat, sondern das Schauspiel an sich. Ich wollte eigentlich mal Schauspieler werden und Drag ist für mich ein Ausdruck dieser Leidenschaft.
"Ich will zeigen, dass Drag mehr ist als Gay-Bar-Show, es ist Unterhaltung für alle."
Und wie hast du den Einstieg dann gefunden?
Ein Kollege aus der Szene sagte damals zu mir: "Hey, mein Freund liebt Drag, der kann dir helfen." So lernte ich Josef kennen. Er zeigte mir, wie man sich richtig paddet, also mit Polsterungen unter der Kleidung eine weibliche Silhouette formt, und wie man sich schminkt. Wir haben fast ein Jahr lang bei ihm zu Hause geübt. 2020 habe ich mich dann beim Wettbewerb "Drag Queen Hungary" beworben und direkt gewonnen. Ab da ging alles ganz schnell: Ich wurde sofort für Shows gebucht, plötzlich war ich überall gefragt.
Du hast mit Drag erst mit 30 begonnen. Hattest du früher nie darüber nachgedacht?
Ehrlich gesagt: nein. In der Gegend, wo ich herkomme, war das einfach kein Thema. Es hätte gar keinen Raum dafür gegeben. Selbst mein Comingout als schwuler Mann war schon schwierig genug, auch wenn meine Familie da ganz großartig reagiert hat. Meine Mutter war es sogar, die mich gefragt hat, ob ich schwul sei. Das ist ein großes Glück, das ich habe, viele haben das nicht.
Wissen die Leute in deinem Heimatort, dass du Drag machst?
Ich gehe ehrlich gesagt selten zurück, weil mein ganzes Leben in Budapest stattfindet. Es ist kein Geheimnis, aber es gibt da auch niemanden, mit dem ich darüber sprechen würde. Budapest ist da wie eine Blase: völlig anders als der ländliche Osten.

Szabolcs ist im Alltag Tourguide in Budapest.Bild: Privat / Halász Péter
Wer bist du in Drag und wer bist du, wenn das Make-up runter ist?
In Drag bin ich lauter, lustiger, ein bisschen übertriebener, aber im Kern immer noch ich. Mein Stil ist Comedy, ich mache Bingo- und Quizshows, ich liebe es, mit Menschen zu interagieren, zu roasten, aber nie auf eine verletzende Art. Als Drag Queen muss man diese feine Grenze kennen: Du darfst provozieren, aber nicht kränken. Mein Ziel ist immer Unterhaltung, aber respektvoll.
Und was bedeutet Drag für dich?
In einem Land wie Ungarn, wo LGBTQ+-Personen von der Regierung immer mehr eingeschränkt werden, wird Drag zwangsläufig auch politisch. Aber für mich und viele meiner Kolleg:innen ist es in erster Linie Kunst und Ausdruck unserer Persönlichkeit. Ich will zeigen, dass Drag mehr ist als Gay-Bar-Show, es ist Unterhaltung für alle. Und ich trete inzwischen auch in "normalen" Bars auf, nicht nur in queeren Spaces.
Wer inspiriert deinen Stil?
Vor allem Frauen, wie meine Mutter und meine Großmutter. Sie hatten so ein Gefühl für Stil, für Haare, für Eleganz. Und wenn ich eine berühmte Ungarin nennen soll: Zsazsa Gabor. International liebe ich den Stil von Prinzessin Diana, oder die Wandelbarkeit von Cate Blanchett und Meryl Streep. Was Drag Queens betrifft: Dani La Rue aus den 50ern und Cherry Valentine aus "Drag Race UK", die leider verstorben ist. Sie war eine meiner größten Inspirationen.
Wie hat sich die Drag-Szene in Ungarn in den letzten Jahren entwickelt?
Trotz, oder vielleicht gerade wegen des politischen Drucks, ist sie explodiert. Es gibt doppelt oder dreimal so viele Queens, wie noch vor drei Jahren. Die Community hält mehr zusammen, die Shows sind gut besucht und das Publikum ist zu 80 Prozent hetero. Das zeigt: Die Menschen sind bereit, sich auf Drag einzulassen, auch wenn die Regierung etwas anderes behauptet.
"Die Menschen in Ungarn sind offener, als man von außen denkt und das Problem ist die Regierung, nicht das Volk."
Wie ist dein Alltag als Drag Queen? Spürst du die politische Stimmung?
Budapest ist da wirklich sicher, vielleicht sogar sicherer als andere europäische Hauptstädte. Nur einmal gab es einen Vorfall: Ein Bild von mir mit einem kleinen Mädchen wurde ohne Kontext verbreitet und rechte Medien haben behauptet, ich wolle Kinder "verführen". Es war erschütternd. Aber heute weiß ich: Das ist reine Propaganda. Die haben einfach Angst, ihre Macht zu verlieren.
Was ist genau passiert?
Ich hatte einen Auftritt und ein Mädchen, das mit ihrer Familie im benachbarten Restaurant war, liebte mein pinkes Outfit. Ihre Mutter hat dann ein Foto von uns gemacht und eine Kellnerin der Bar, in der ich aufgetreten bin, ebenso. Die Bilder waren total harmlos und das hat die Kellnerin dann auf der Facebook-Seite der Bar gepostet. Ein rechter Journalist hat das gefunden und einen Artikel darüber geschrieben, wie "pervers" ich doch sei. Das hat mich total verletzt.
Und wie steht es um die Gesetzeslage? Was macht dir Sorge?
Für mich persönlich gibt es bisher keine direkten Einschränkungen. Aber für trans* Personen sieht das anders aus. Das sogenannte "Gesetz 33" verbietet ihnen, nach einer Transition ihre Ausweisdokumente anzupassen, das ist so menschenverachtend. Auch das sogenannte "Kinderschutzgesetz" ist eigentlich ein Anti-LGBTQ-Gesetz: Lehrkräfte dürfen queere Themen nicht mehr im Unterricht behandeln, selbst wenn Schüler:innen fragen. Das ist absurd und gefährlich.
Du wirkst trotzdem optimistisch. Warum?
Weil ich sehe, wie viele Menschen zu uns halten. Die diesjährige Pride in Budapest war die größte aller Zeiten, mit rund 300.000 Menschen. Auch viele aus dem Ausland sind gekommen, aus Deutschland, Österreich, Frankreich. Das war ein klares Zeichen: Wir lassen uns nicht klein machen. Die Menschen in Ungarn sind offener, als man von außen denkt und das Problem ist die Regierung, nicht das Volk.
"Wer die emotionale Intelligenz hat, Drag zu verstehen, wird auch in anderen Lebensbereichen empathischer."
Was möchtest du jungen queeren Menschen mitgeben?
Niemals aufgeben. Und vor allem: Seid ihr selbst. Habt keine Angst, weder vor anderen noch vor euch selbst. Ich weiß, wie lange es dauern kann, sich selbst zu akzeptieren. Ich habe Jahre gebraucht, um mir selbst einzugestehen, dass ich schwul bin. Also: Gebt euch Zeit. Wenn eure Eltern nicht sofort akzeptieren, wer ihr seid: wartet. Die meisten Eltern lieben ihre Kinder und brauchen manchmal einfach länger.
Und wie siehst du die Zukunft von Drag?
Drag ist Kunst. Und wie jede Kunstform verdient auch sie Respekt. Es braucht Zeit, Geld, Arbeit, denn niemand wird über Nacht zur Drag Queen. Ich glaube, viele Menschen sehen in uns etwas, das sie sich selbst oft nicht trauen zu leben: Freiheit. Deshalb gibt Drag auch Hoffnung. Wer die emotionale Intelligenz hat, Drag zu verstehen, wird auch in anderen Lebensbereichen empathischer. Das ist meine Botschaft an Deutschland, an Europa, an die Welt.