Mit der Fußball-Europameisterschaft der Männer und den Olympischen Spielen ist dieses Jahr geprägt von großen Sportereignissen. Und traditionell wird fleißig mitgefiebert. Für die Lieblingsmannschaft, wie auch für einzelne Sportler:innen.
Es werden Trikots mit der Mannschaftsnummer des Lieblingsfußballers getragen, Spiele und Wettkämpfe mit Spannung verfolgt, Wetten abgeschlossen. Man leidet, wenn der eigene Favorit es nicht schafft und ist voller Euphorie, wenn das Lieblingsteam auf dem Sieger:innentreppchen steht.
Triggerwarnung: Im folgenden Text werden verschiedene Formen der Gewalt thematisiert, die für Betroffene belastend sein können.
Aber was ist eigentlich, wenn die Person, die man für die sportlichen Leistungen so feiert, ziemlichen Dreck am Stecken hat? Wenn die Person, die ein ganzes Land bei so großen Sportereignissen vertritt, schon mal jemanden vergewaltigt hat? Oder ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher ist?
Über letzteren Fall berichtete kürzlich der Auslandsrundfunk Deutsche Welle. Omar al-Aroub ist Leiter des nationalen Paralympischen Komitees in Syrien. Er soll aber auch Studenten rekrutiert haben, die bei gewaltsamen Protesten gegen die demokratische Regierung helfen sollten.
Laut der Deutschen Welle habe al-Aroub jene Studenten mit Schlagstöcken und Schusswaffen ausgestattet. Auch soll er angeordnet haben, "regimekritische Studenten aus den Fenstern von Studentenwohnheimen zu werfen oder männlichen Demonstranten so heftig auf ihr Geschlechtsteil zu schlagen, dass sie unfruchtbar wurden".
Inzwischen hat das SBC eine Petition gestartet, um Omar al-Aroub für die Olympischen Spiele sperren zu lassen. Im Bericht der Deutschen Welle heißt es weiter, dass weder das Internationale Olympische Komitee (IOC), noch das Internationale Paralympische Komitee (IPC) sich für diesen Fall als zuständig erachten. Das IPC hätte für solche Anschuldigungen an den Internationalen Strafgerichtshof verwiesen, der hier den Wahrheitsgehalt beurteilen müsste.
Noch ein weiterer Fall zu einem olympischen Wettbewerber mit krimineller Vergangenheit beschäftigte die Medien in den vergangenen Wochen. Ein Spieler des niederländischen Beachvolleyball-Teams vergewaltigte vor zehn Jahren ein zwölfjähriges Mädchen.
Steven van de Velde, der Täter, war zu dem Zeitpunkt 19 Jahre alt und flog von den Niederlanden nach England, um das Mädchen dort zu Hause zu besuchen, nachdem sie sich zuvor im Netz kennengelernt hatten. Im "Stern" heißt es dazu, er habe sie vor der Tat auch noch alkoholisiert.
Van de Velde wurde von einem englischen Gericht zu vier Jahren Haft verurteilt, dann jedoch in seine Heimat zurückgebracht. Da in den Niederlanden andere Gesetze gelten, musste er schlussendlich nur 13 Monate der Haftstrafe tatsächlich absitzen. Sein Verband steht laut "Stern" hinter van de Velde, er selbst habe die Tat in einem Statement als "größten Fehler meines Lebens" bezeichnet.
Er hat also seine Strafe, zumindest in Teilen, abgesessen und sich reumütig gezeigt. Aber reicht das, um wieder ein ganzes Land im Sport zu vertreten?
Die Social-Media-Community der "Spiegel"-Kolumnistin Tara Louise Wittwer findet: "Rehabilitierung ja, Repräsentation nein." Gegen die Teilnahme von van de Velde bei den Olympischen Spielen gibt es mittlerweile sogar eine Petition. Mit mehr als 50.000 Unterzeichnenden.
Ein komplexes Thema. Denn zu Spitzen-Sportler:innen wird nun mal aufgeschaut. Sie werden für ihre Leistungen gewürdigt, sind gesellschaftlich anerkannt.
Wir haben darüber mit dem sportpsychologischen Coach Klaus-Dieter Lübke Naberhaus gesprochen.
Watson: Wie kommt es, dass bei Sportler:innen auch mal beide Augen zugedrückt werden, was ihre Vergangenheit angeht?
Lübke Naberhaus: Einige identifizieren sich mit Menschen, die etwas erreichen, was wir selbst nicht erreichen können. Das kann an individuellen oder auch gesellschaftlichen Restriktionen liegen. Aber dabei entsteht ein Anschlusseffekt, vor allem bei Sportler:innen, die das eigene Land vertreten. Durch die Identifikation mit ihnen fühlen wir uns zugehörig und haben das Gefühl, an den Erfolgen teilzuhaben.
Also erfahren wir durch ihren sportlichen Erfolg eine Bestätigung?
Ja und Sport ist auch ein soziologischer Filter für Aggressionen, ein Raum, in dem Dinge passieren dürfen, die im normalen Alltag nicht akzeptiert werden. Beim Boxen im Ring darf ich beispielsweise jemanden K.o. schlagen, das ist außerhalb des Sports strafbewehrt. Sportler:innen können hier sozusagen ureigene Bedürfnisse ausleben, die uns versagt bleiben. Wir erfahren das dann stellvertretend durch sie.
Und dann wollen wir nicht, dass Menschen, mit denen wir uns identifizieren, etwas potenziell Schlechtes an sich haben?
Wenn wir eine Figur, mit der wir uns identifizieren, dann infrage stellen, beispielsweise wegen Doping oder Regelverstößen, kann das unsere eigene Identität infrage stellen. Hier geschieht oftmals eine sogenannte moralische Entkopplung. Wir trennen dann den oder die Sportler:in vom Fehlverhalten, damit wir zwei getrennte Dinge haben und die Identifikation mit der Leistung, dem sportlichen Anteil bestehen bleiben kann.
Also passiert eine selektive Wahrnehmung, wir sehen aktiv nur das Gute?
Auch auf der Ebene der Wahrnehmung kann schon eine Selektion erfolgen. Oft geschieht auch eine Verdrängung oder Verharmlosung von kritischen Situationen. Das ist aber nicht nur auf den Sport beschränkt, sondern betrifft auch andere Rollen, in denen Menschen als Vorbilder fungieren. In der Politik, oder auch in der Film- und Musikindustrie. Verhält unser Idol sich falsch, wollen wir das eigentlich nicht wahrhaben.
Das heißt?
In der Psyche des Menschen wirken auch kognitiven Verzerrungen. In Bezug auf Idole kann der sogenannte "Halo Effect", also "Heiligenschein-Effekt" zur Geltung kommen. Der besagt, ein wenig angepasst, dass beliebte Menschen oder Menschen mit einer besonderen Gabe ja gar keine schlechte Seite haben können. Es wird dann nicht wahrgenommen, dass der Mensch einen Fehler gemacht hat.