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Interview

Wenn nach dem Amoklauf das Trauma bleibt: Ex-Polizisten bieten Selbsthilfe

Polizisten bei Übung.
Einen Amokläufer entwaffnen: Solche Extremsituationen, wie hier bei einer Übung, können auch schlimm ausgehen.bild: IMAGO / Andre Lenthe
Interview

Wenn nach dem Amoklauf das Trauma bleibt: Ex-Polizisten bieten Selbsthilfe

20.03.2023, 15:4320.03.2023, 15:47
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Vor zwanzig Jahren passierte dem Berliner Streifenpolizisten Jürgen Röhr das, wovor die meisten Polizist:innen die größte Angst haben. Er wurde im Dienst angeschossen und erlitt lebensgefährliche Verletzungen. Doch auch wenn man, wie in seinem Fall, mit viel Glück überlebt: Was bleibt, ist oft ein Trauma.

So ein Vorfall kann das Ende im aktiven Polizeidienst bedeuten. Denn ob man nach solch einem Erlebnis je wieder mit einer Waffe umgehen kann, hängt von einer guten psychischen Bewältigung des Erlebten ab.

Nach 85 Tagen im künstlichen Koma, langer Reha-Phase und 21 Operationen ging Jürgen Röhr nach seiner Dienstverletzung vor fast 20 Jahren in den Ruhestand. Wegen seiner schweren körperlichen Schäden, aber auch aufgrund des Traumas.

Der Ex-Polizist Jürgen Röhr engagiert sich heute für die Selbsthilfegruppe "Schusswaffenerlebnis", um im Dienst traumatisierten Kollegen zu helfen.
Ex-Polizist Jürgen Röhr hilft mit "Schusswaffenerlebnis" traumatisierten Kolleg:innen bild: privat

Wie geht man bei der Polizei mit betroffenen Kolleg:innen um? Seine Antwort: "Meistens leider nicht so gut, weil die zum Problemfall werden."

Im Gespräch mit watson erklärt Jürgen Röhr, warum das auch heute noch so ist. Er und andere Ex-Polizist:innen versuchen, betroffenen Kolleg:innen mit der Selbsthilfegruppe "Schusswaffenerlebnis" bei der psychologischen Aufarbeitung zu helfen.

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Watson: Was ist bei Ihrem traumatischen Erlebnis damals vorgefallen?

Ein Berliner hatte seine Lebenspartnerin, die sich von ihm getrennt hatte, in einem Café in Kreuzberg mit mehreren Kopfschüssen vor anderen Gästen hingerichtet. Dazu kam ein Radfahrer, der dort auch als Bedienung gearbeitet hatte, der den Täter als Stammgast vom Sehen her kannte. Er hatte den Täter angesprochen und dieser schoss ebenfalls auf ihn. Dann hat er die Waffe eingesteckt und ist weggegangen.

"Dann fingen die Kollegen an, auf ihn zu schießen. Er hat zurückgeschossen. Das war wie auf einem Schlachtfeld."

Wie kamen Sie dazu?

Bei unserer Ankunft redeten zwei Kollegen bereits auf den Täter ein, der auf dem Gehweg stand, in der einen Hand eine Tageszeitung, in der anderen eine Zigarettenschachtel. Sie sagten, er solle sich an die Wand stellen und die Hände hochnehmen, was er nicht getan hat. Er hatte aber keine Waffe.

Wie eskalierte die Situation?

Ich wollte ihn zu Boden zu bringen. Doch kurz bevor ich an ihm dran war, bemerkte er mich und drehte sich schlagartig um. Er hat alles fallen lassen, was er in den Händen hatte und griff nach hinten in seinen Hosenbund, da hatte er die Waffe stecken. Er hat mir in den Unterbauch geschossen und das Geschoss kam oben rechts unterm Arm wieder raus, es ging quer durch meinen Körper. Dann fingen die Kollegen an, auf ihn zu schießen. Er hat zurückgeschossen. Das war wie auf einem Schlachtfeld.

"Wenn Sie so ein schweres Erlebnis hatten, dann hört ihr Leben an dem Tag erstmal auf."

Wie wurde Ihnen danach psychologisch geholfen?

Als ich aus der Reha kam, ging ich zur Sozialbetreuung der Berliner Polizei. Man will ja sein altes Leben, seinen Alltag ein Stück weit zurück. Der Sozialbetreuer hat sich mir gegenübergesetzt, die Arme verschränkt und zu mir gesagt: "So, wie soll's denn jetzt weitergehen?" Man hofft, es wird einem geholfen, man wird unterstützt. Aber die wollten von mir wissen, wie es jetzt mit mir weitergehen soll. Ich bin dann aus Eigeninitiative, weil ich den Drang hatte, über das Erlebte zu sprechen, in die Selbsthilfegruppe gekommen.

Ich bin völlig euphorisch von dort zurückgekommen, weil es einfach gut getan hat, mit betroffenen Kollegen auf Augenhöhe darüber reden zu können. Ich habe danach die Sozialbetreuung gefragt, ob man das nicht auch hier machen könne in Berlin. Und da kam nur zurück: Sowas brauche man hier nicht, man habe ein eigenes Konzept.

Was sind Maßnahmen nach traumatischen Vorfällen im Dienst?
"Bei dienstlichen Belastungssituationen können polizeiliche Einsatzkräfte eine psychosoziale Notfallversorgung in Anspruch nehmen. Fachkräfte bieten in Zusammenarbeit mit besonders geschulten Polizeidienstkräften Einzel- oder Gruppengespräche an. (...) Dabei sollen im geschützten Rahmen eine emotionale Entlastung und gleichzeitig eine Stabilisierung der Betroffenen erreicht werden, das Gefühl von Sicherheit und persönlicher Kontrolle gefördert, individuelle Schutzfaktoren und Ressourcen aktiviert und Informationen vermittelt werden, um möglichen Trauma-Folgestörungen vorzubeugen."
Pressestelle der Polizei Berlin auf Nachfrage von watson

Wie sieht die Erfahrung anderer Kolleg:innen aus?

Auch die Kollegen von Amokläufen wurden alle mehr schlecht als recht betreut. Ein gutes Beispiel ist Ernst Kappel aus Winnenden. Er hat ein Buch darüber geschrieben, "System Polizei". Darin beschreibt er, was er damals als Kripobeamter erlebt hat und wie er einfach von seiner Behörde fallengelassen wurde. Kappel musste die ganzen getöteten Kinder dokumentieren, das war absolut gruselig. Die Leichen wurden angehoben und hinten sind die Kugeln aus dem Rücken auf die Metalltische gefallen. Als er im Nachgang gesagt hat, er hat ein Problem, hat man ihm gesagt, wenn er das nicht könne, dann sei er bei der Polizei verkehrt.

Wie geht das "Leben danach" weiter?

Wenn Sie so ein schweres Erlebnis hatten, dann hört ihr Leben an dem Tag auf. Polizisten haben eigentlich einen Helferberuf. Man tritt den Dienst dafür an, anderen Menschen zu helfen, nicht sie zu verletzen oder zu töten.

Wie werden Polizisten heute auf so etwas vorbereitet?

Man hat Übungsszenarios und Rollenspiele erstellt, die junge Kollegen auf Extremsituationen vorbereiten sollen. Heute hat auch jeder seine persönliche Schutzweste, die sogar je nach Situation noch aufgerüstet werden kann.

Schwerbewaffnete Polizisten bei einer Übung, die einen Amoklauf an einem Gymnasium simuliert.
So gut gerüstet wie diese Einsatzkräfte bei einer Amoklauf-Übung, sind Streifenpolizist:innen in der Regel nicht.bild: IMAGO / Andre Lenthe

Doch ein Restrisiko bleibt ...

Als Streifenpolizist sind Sie mehr gefährdet als ein Kollege vom SEK. Die wissen, wo sie hinfahren, die sind top ausgerüstet, trainieren den ganzen Tag dafür. Wir Streifenpolizisten machen das normale Alltagsgeschäft: Ruhestörung oder Streitigkeiten. Stellen Sie sich vor, Sie kommen an und dann kommt einer herausgerannt mit einer Waffe und schießt auf Sie. Da hat es Kollegen schon bitterböse erwischt.

Kann man bei der Polizei traumatische Erlebnisse inzwischen besser ansprechen?

Viele Kollegen wollen nichts sagen, weil sie Angst haben. Es ist ein Karrierekiller. Wenn man vorwärtskommen will, heißt es dann, man sei nicht belastbar.

"Oft kommen Kollegen in ihrer Freizeit zu uns oder müssen Urlaub nehmen."

Mit welchen Problemen kommen die Kolleg:innen in der Selbsthilfegruppe zu Ihnen?

Das Erlebte wird leider immer noch nicht ausreichend anerkannt. Ein Beispiel: Ein Kollege hat nach einer Schusswaffenverletzung versucht, in die Normalität zurückzufinden. Aber sobald er in einen ähnlichen Einsatz kam, war das Trauma da. Er ist dann in den Kontaktbereichsdienst gewechselt, mit dienstlichen Gängen wie Führerschein einziehen. Er sollte dennoch zu einem erhöhten Einsatztraining und da wird auf jeden Fall geschossen. Sein Chef sagte ihm, wenn er das nicht schaffe, sei er als Polizist ungeeignet. Dann müsse er in die Verwaltung oder gehen. Der Kollege ist Mitte 30.

Was passiert mit Beamt:innen, die nicht mehr im regulären Polizeidienst einsatzfähig sind?
"Liegt nach ärztlicher Feststellung weiterhin Dienstfähigkeit vor, (...) wird geprüft, ob eine laufbahn- oder amtsadäquate Verwendung der betroffenen Polizeivollzugskraft in ihrer derzeitigen Tätigkeit oder einem anderen Bereich des Polizeivollzugsdienstes möglich ist. (...)
Kann eine geeignete Verwendung nicht gefunden werden, wird vor einer Versetzung in den Ruhestand eine Umschulung in die allgemeine Verwaltung in Betracht gezogen."
Pressestelle der Polizei Berlin auf Nachfrage von watson

Stellen Sie mit der Selbsthilfegruppe ein alternatives Hilfsangebot bereit?

Wir haben mittlerweile über 400 Kollegen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum betreut. Diese Kollegen sind sozusagen die Botschafter bei der Polizei in den Bundesländern. Aber es dauert, bis sich etwas ändert. Oft kommen die Kollegen in ihrer Freizeit zu uns oder müssen Urlaub nehmen. Weil die Behörden der Meinung sind, das sei ein Privatvergnügen. Was es ja nun überhaupt nicht ist.

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