watson: Ciani, wir haben 2024, es gibt doch keine Klassen mehr, oder?
Ciani-Sophia Hoeder: (lacht) Doch, natürlich. Es gab allerdings eine Phase nach dem Wirtschaftsboom in Deutschland ab den 50ern, in der es für die Mitte besser wurde. Diese Aufbruchstimmung hat für die Annahme gesorgt, Klassen seien hinfällig. Eine Fehleinschätzung. Der Mitte ging es besser, aber die Reichen wurden auch deutlich reicher. Denn inzwischen spielen Klassen durch eine Anhäufung des Vermögens bei einigen wenigen wieder eine größere Rolle.
Was sind Klassen überhaupt?
Klassen sind eine Einheit, die Menschen beschreibt, die sich in Bezug auf ihre sozioökonomische Herkunft ähneln. Diese und ihre kulturelle Herkunft beeinflusst, welchen Job sie haben, welche soziale Anerkennung sie bekommen, wie alt sie werden, wer sie attraktiv findet oder wie ihr Leben im Allgemeinen verläuft.
Warum ist es so schwer, die verschiedenen Klassen zu definieren?
Weil Klassen nicht nur Ökonomie sind, sondern auch Kultur und Psychologie: Es gibt Menschen, die studiert haben und weniger verdienen, als Menschen, die eine Ausbildung gemacht haben. Doch die einen sind oft in machtpolitischeren Räumen, als die anderen. Deshalb ist es so schwer, Klassen nur nach Geld einzuteilen. Demnach wäre eine Journalistin nämlich nicht selten in der prekären Klasse. In Wahrheit zählt sie aber in den meisten Fällen zur akademischen Mittelschicht.
Ist es dann nicht kontraproduktiv, Menschen in Klassen einzuteilen?
Das ist eine gute Frage (lacht). Ich würde trotzdem sagen, dass wir den Klassenbegriff brauchen. Denn wir benennen damit eine existierende soziale Hierarchie. Er zeigt auf, wer Macht hat und wer wie viel in unserer Gesellschaft bewirken kann.
Du hast in deinem Buch "Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher" selbst Klassen bestimmt. Warum hast du sie so eingeteilt?
Weil ich finde, die bisherigen Definitionen sind zu einfach. Der Kapitalismus-Kritiker Karl Marx hat die Menschen etwa in zwei Klassen eingeteilt. Jene, die arbeiten und jene, die arbeiten lassen – sowie verschiedene Mischformen. Ein Beispiel für letzteres: Eine praktizierende Friseurin mit eigenem Salon und Mitarbeitenden. Doch es ist viel komplexer. Identitäten und Markierungen können nämlich ebenfalls zu einer Verschlechterung der Klasse führen.
Welche Einteilung wäre besser?
Wir sollten vor allem über die Überwohlständigen und die prekäre Schicht sprechen, anstatt einen Kampf in der Mittelschicht auszutragen. Deshalb unterteile ich in fünf Klassen: die prekäre; die klassische, frühere Mitte; die aktuelle Mitte; die Wohlständigen und die Überwohlständigen. In die aktuelle Mitte fällt etwa die Journalistin, die auch von der Bildungsexpansion profitiert hat.
In deinem Buch beschreibst du auch, wie du mit deiner Mama früher zur Tafel gegangen bist, weil ihr arm wart. Gab es eine Situation in deinem Leben, in der du gemerkt hast, dass du der Unterschicht angehörst?
Das ist spannend, die Frage habe ich mir so ehrlich gesagt noch nie gestellt. Denn die Menschen um mich herum bewegten sich in einer ähnlichen Klasse. Der Working Class, Mittelschicht. Bei den meisten meiner Freund:innen waren die Lebensumstände ähnlich. Klar, ich wusste, es gibt reichere Menschen als uns, aber auch ärmere. Aber so richtig in Berührung mit ihnen kam ich erst im Studium.
Du hast allerdings später an einer Privatuni studiert. Da hat sich das dann geändert, oder?
Ja, total. Da habe ich das erste Mal wirklich gesehen und gespürt, was Klassenunterschiede sind. Ich weiß noch, dass ich meine Mama angerufen habe, mit dem Impuls: "Ich passe hier nicht rein. Aber ich muss hier reinpassen." Denn ich kam ja aus der prekären Schicht, ich muss mich den anderen anpassen. Es geht in unserer Gesellschaft immer um Aufstieg.
Was hat das mit dir gemacht?
Ich hatte eine richtige Identitätskrise, weil ich dachte, das ist nicht für mich gemacht. Aber dann habe ich alles daran gesetzt, in diese Schicht, meine neue Schicht, hineinzupassen. Das hat geklappt. Irgendwann merkt man gar nicht mehr, dass man das Verhalten, das Leben, der anderen längst adaptiert hatte.
Die wenigsten Menschen wissen heutzutage, welcher Klasse sie angehören – oder schätzen es von Grund auf falsch ein. Woran liegt das deiner Meinung nach?
Es gibt schon ein Bewusstsein für soziale Hierarchie auf der Basis von Klassen. Aber es gibt das Phänomen, dass sich von den reichsten 10 Prozent in Deutschland, 5 bis 9 Prozent zur Mittelschicht zählen. Weil sie oft der Annahme sind, es gibt noch reichere Menschen. Jeff Bezos, Elon Musk, ... Das Vorbild sind die USA. Dort wird Reichtum mehr zur Schau gestellt, als in Deutschland. Was wiederum dazu führt, dass sich diese 10 Prozent gar nicht so reich fühlen im Vergleich.
Wie können wir dieses Klassenunbewusstsein aufbrechen?
Der Austausch und die bewusste Durchmischung der Klassen sind ganz elementar. So paradox es im ersten Moment klingt, da ist ganz klar die Mittelschicht angesprochen, zu handeln, natürlich auch die Überwohlständigen. Denn die Armen wissen ganz genau, dass sie arm sind, aber die Überwohlständigen werden sich nicht aus ihrer Bubble herausbewegen. Die Mittelschicht macht immerhin 50 Prozent der Gesellschaft in Deutschland aus.
Und was könnte wirklich zu einer Chancengleichheit in Deutschland führen?
Es werden einige Lösungsansätze diskutiert. Die populärsten sind vermutlich das bedingungslose Grundeinkommen, das Grunderbe – etwa 60.000 Euro zum 18. Geburtstag – und natürlich die Vermögenssteuer. Das dauert ein paar Generationen, aber so könnte die ungleiche Verteilung von Reichtum in Deutschland tatsächlich bekämpft werden. Denn was viele vergessen: Früher wurde Vermögen viel stärker besteuert als heute.
Ist es realistisch, dass sich in näherer Zukunft etwas an unserem bestehenden System zum positiven ändert?
Ja, das ist absolut realistisch. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, wenn wir verhindern wollen, dass das System irgendwann zusammenbricht. Unendliches Wachstum auf einer endlichen Erde kann nicht ewig weiterlaufen. Wir brauchen zukunftsfähigere Lösungen.
In den vergangenen Jahren hat sich daran aber auch nichts geändert.
Bei der Chancengleichheit gehen wir davon aus, dass jede:r zur Schule gehen oder studieren kann. Es gibt auch viele Chancen, sozial aufzusteigen, aber das ignoriert die soziale Realität der unterschiedlichen Gruppen. Denn statistisch betrachtet studieren eher Kinder aus Akademiker:innen-Haushalten. Das heißt: Es zählt nicht die Leistung des Kindes, sondern in welchem Haushalt es groß geworden ist. Aber ich denke dennoch, dass es Chancengleichheit geben kann – zumindest, wenn sich die Realitäten angleichen.
Ja?
Bildung wird oft als Lösung allein dargestellt. Sie ist auch essenziell, aber eben keine alleinige Lösung für soziale Ungerechtigkeit. Wenn wir jedoch am Vermögen arbeiten, nähern wir uns der Chancengleichheit deutlich an.