
Pumpöööön!Bild: imago images / Shotshop
Interview
Keine Zigaretten, kein Alkohol, kein Fast Food, Joggen, Gewichte stemmen, push it, push it: Durch alle sozialen Schichten dringt der Wunsch, sich möglichst gesund zu halten. Wie lange wir leben, ob wir fit und produktiv bleiben oder schwer erkranken, liegt schließlich in unserer Verantwortung. So mag es erscheinen, richtig ist das aber nicht ganz. Es gibt viele Faktoren, die wir eben nicht beeinflussen können.
Leben wir in Großstädten, inhalieren wir regelmäßig Feinstaub, eine Ursache für schwere Lungenerkrankungen; wuchten wir während unseres Berufslebens Tag für Tag Baugerüste oder pflastern Straßen, sind die Knochen nach Jahren hin; haucht uns stets Stress kalt in den Nacken, zum Beispiel, weil ein Rauswurf aus der Wohnung oder dem Job droht, steigt das Risiko für Krebs, Schlaganfälle und allerlei andere Erkrankungen.
Der Fokus auf individuelle Entscheidungen, drängt Faktoren, die sich vor allem politisch beeinflussen lassen, in den Hintergrund. In seinem Buch "Healthismus: Gesundheit als gesellschaftliche Obsession" beschäftigt sich Soziologe Friedrich Schorb mit dem Problem sowie dessen Ursprung.
Im Gespräch erklärt er, wie wir uns von der ideologisch gefärbten Sorge um die eigene Gesundheit frei machen können – und was es als Grundlage für ein gesundes Leben braucht.
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watson: Wann haben Sie zuletzt Sport gemacht?
Friedrich Schorb: Sport mache ich nicht in dem Sinne, dass ich ins Fitnessstudio gehe oder einem Verein angehöre. Trotzdem bewege ich mich viel, fahre zum Beispiel viel Fahrrad, da ich kein Auto habe. Da kommen im Jahr schon einige Tausend Kilometer zusammen. Spazieren und Schwimmen sind ebenfalls ein Thema, im Urlaub auch wandern.
Das machen sie aber aus anderen Gründen als einer übertriebenen Sorge um die eigene Gesundheit.
Für mich ist Bewegung in den Alltag zu integrieren wichtig als Ausgleich. Fürs Alter kann ich mir auch vorstellen, gezielt Übungen zu machen, allein um eine gewisse Beweglichkeit zu wahren.
Das Äußere ist kein Thema?
Für mich persönlich nicht, heißt aber nicht, dass ich das grundsätzlich für falsch halte. In meiner Arbeit beschäftige ich mich ohnehin nicht mit den individuellen Beweggründen für Sport, sondern mit der gesellschaftlichen Deutung von Gesundheit als Healthismus worunter ich eine ideologisch gefärbte Sorge um die eigene Gesundheit verstehe.

Friedrich Schorb ist Soziologe an der Universität Bremen.Bild: Marcus Wiechmann
Sie sprechen vom sozialen Druck, die körperliche Gesundheit allein an Eigenverantwortung zu knüpfen, worüber sie auch in "Healthismus" schreiben. Woher kommt der Begriff?
Der Begriff stammt aus den 1980er-Jahren, erstmals genutzt von dem Soziologen Robert Crawford. Healthismus beschreibt die Konzeption von Gesundheit als moralisches Werturteil. Das basiert auf der Überzeugung, der Körper sei beliebig formbar, die Gesundheit insofern eine Frage des Verhaltens. Der Schluss daraus: Chronische Erkrankungen sind eine Folge falscher Lebensweise.
Also eine Logik, nach der Personen nicht krank werden, wenn sie "gesund" leben?
Wer sich richtig ernährt, ausreichend schläft, Stressfaktoren wie Schadstoffe meidet, bekommt nach dieser Logik keinen Schlaganfall oder Krebs. Wer trotzdem krank wird, muss etwas falsch gemacht haben.
"Krankheitsursachen, die angeboren sind und/oder mit strukturellen Defiziten zusammenhängen, werden schlicht ignoriert."
Sozioökonomische Faktoren wie Armut, aber auch Erbkrankheiten werden also genauso ausgeblendet wie die Arbeitsbedingungen.
Genau da liegt das Problem. Krankheitsursachen, die einerseits angeboren sind, andererseits mit strukturellen Defiziten zusammenhängen, werden schlicht ignoriert – oder eben als Ausrede für mangelnde Eigenverantwortung abgetan.
Welche Rolle spielen Staat, aber auch der Arbeitssektor beim Healthismus?
In den Nachkriegsjahren dominierte zunächst eine Arbeitskultur, zu der ein Raubbau am eigenen Körper dazugehörte. Gewerkschaften forderten mehr Arbeitsschutz, weil es insbesondere in der Schwerindustrie häufig zu chronischen Erkrankungen kam. Politisch gab es aber ab den 1970er-Jahren einen stärkeren Fokus auf das individuelle Verhalten.
Inwiefern?
In den USA führte Präsident Reagan zum Beispiel eher Rauchverbote ein, statt großen Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen zu zeigen. Auch wenn es kleinere Verbesserungen gab, hat sich das als Trend in den Industriestaaten fortgesetzt.
Hier konnten sich Unternehmen wahrscheinlich auch fein aus der Affäre ziehen.
Viele haben darauf verwiesen, dass hohe Erkrankungsraten nicht unbedingt mit den Arbeitsbedingungen zusammenhängen müssen. Es könne ja auch am individuellen Verhalten liegen, sprich: vielleicht waren die Erkrankten Raucher, haben sich ungesund ernährt und so weiter.
Auch die Politik kann sich zurückziehen.
Dadurch bleibt eine Verbesserung der Lebensumstände vieler auch auf der Strecke. Und das ist auch Kern meiner Argumentation. Wir können uns die Gesundheitsfaktoren als Pyramide vorstellen.
Wie sieht diese Pyramide aus?
Die Basis bilden sozioökonomische Faktoren, also ein auskömmliches Einkommen; die Lebensbedingungen, wie lebenswerter Wohnraum und sichere Arbeitsplätze mit guten Bedingungen; dann die unmittelbare Umgebung, also, dass wir nicht auf einer hochfrequentierten Hauptstraße stehen, wenn wir das Haus verlassen.
Und was steht an der Spitze?
Ganz oben sind die individuellen Entscheidungen, wozu Sport, Ernährung und Lebensstil gehören. Diese Pyramide steht derzeit auf dem Kopf. Alles lastet auf den Schultern des Einzelnen. Der individuelle Lebensstil soll alle strukturellen Belastungen ausgleichen.
"Der Fokus auf Eigenverantwortung ermöglicht eben eine Schuldumkehr."
Was ist die Folge daraus?
Wer die entsprechende Haltung hat oder das viel beschworene "Mindset" und darüber hinaus über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, wer nicht nur Geld fürs Fitnessstudio, sondern auch für Unterstützung im Alltag wie Kinderbetreuung hat, kommt damit gut klar. Der Rest kämpft mit starker Überforderung und ist häufiger krank. Die Individualisierung von Gesundheit kann dann wiederum dabei helfen, Arbeitsrechte anzugreifen.
Zum Beispiel die jüngste Forderung des Allianz-Chefs, einen Karenztag im Krankheitsfall einzuführen?
Und die Forderung gab es auch schon in den 1990er- und Nullerjahren. Der Fokus auf Eigenverantwortung ermöglicht eben eine Schuldumkehr.
In den vergangenen Jahren gab es auch einen ordentlichen Fitness-Boom. Hat das die Situation noch einmal verschärft?
Das ist auch eine Henne-Ei-Frage. Ich würde sagen, dass der Fokus auf Eigenverantwortung, das Wachstum der Industrie mit ermöglicht hat. Wobei die Motivation, ins Fitnessstudio ja nicht immer die Gesundheit sein muss. Viele wollen eben "gut" aussehen, vielleicht bei Tinder punkten. Und dann wäre da noch die Entwicklung, dass es etwa in Chefetagen immer wichtiger geworden ist, möglichst fit auszusehen. Beides sind eher pragmatische Gründe.
Wie kann man ins gesellschaftliche Bewusstsein rücken, dass Gesundheit eben nicht eine rein individuelle Geschichte ist?
Einerseits müssen sozioökonomische Bedingungen politisch verbessert werden, andererseits braucht es ein noch stärkeres Arbeiterbewusstsein, um gegen prekäre Arbeitsbedingungen mobil zu machen. Beratungsangebote sind ebenso wichtig. Um es kurz zu machen: Solange ich nicht weiß, ob ich morgen meine Miete zahlen kann, solange ich Angst um meinen Job habe, solange mich mein Job enorm stresst, desto weniger kann ich mich selbstbestimmt um mich kümmern.