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Interview

Gynäkologe Dr. Mertci über Rassismus und Misogynie in der Medizin

Mertcan Usluer, Dr. Mercti, Gynaekollege
Das haben Kapitalismus, Kolonialismus und Krankheit gemeinsam: Dr. Mertci bekämpft sie.Sascha Swiercz
Interview

Dr. Mertci – ein Mythbuster der Medizin geht viral

25.03.2025, 07:5827.03.2025, 11:50
Lena Stein
Lena Stein
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Warst du schon mal bei deiner Ärzt:in und hast dich nicht verstanden gefühlt? Gerade für Frauen und Menschen aus marginalisierten Gruppen ist das oft die bittere Realität in einer Welt, in der Medizin vor allem für cis-Männer gemacht wurde.

Mertcan Usluer – besser bekannt als Dr. Mertci und Gynäkollege – ist nicht nur freier Journalist und Arzt in der Gynäkologie, sondern auch eine Art medizinischer Mythbuster auf Instagram. Mit watson spricht er über seine Arbeit, Vorurteile und deutsche Gesundheitsminister.

watson: Gab es einen Moment, der dich dazu gebracht hat, dich für eine inklusive, rassismuskritische Medizin einzusetzen?

Mertcan Usluer: Es gab viele solcher Momente. Wahrscheinlich habe ich als queerer, migrantischer Arzt eine andere Perspektive auf die Medizin als die alten männlichen "Götter in weiß". Und ich habe mich bewusst für die Gynäkologie entschieden; ein Fach, das hauptsächlich gesellschaftlich benachteiligte Personengruppen behandelt.

"Diese Vorurteile sind kein individuelles Problem einzelner Ärzt:innen, sondern systemisch."

Welchen rassistischen und sexistischen Vorurteilen begegnest du in der medizinischen Praxis?

Die Liste ist lang, aber einige Beispiele sind besonders gravierend. Es gibt immer noch das weit verbreitete Vorurteil, dass Schwarze Menschen weniger Schmerz empfinden – ein Mythos, der aus der Kolonialzeit stammt und bis heute in manchen Lehrbüchern auftaucht. Dadurch bekommen BIPoC-Patient:innen oft weniger oder später Schmerzmittel.

Gibt es weitere solcher Vorurteile?

Ein weiteres Beispiel ist die Endometriose-Diagnostik: Es gibt Ärzt:innen, die Frauen mit starken Regelschmerzen einreden, sie würden übertreiben. Dahinter steckt ein tief verwurzeltes Muster, das Frauen als überempfindlich und Männer als die medizinische Norm betrachtet. Diese Vorurteile sind kein individuelles Problem einzelner Ärzt:innen, sondern systemisch.

Was können Patient:innen tun, wenn sie merken, dass sie nicht ernst genommen werden?

Es gibt Strategien, um sich dagegen zu wehren. Erstens: Beschwerden dokumentieren! Symptome, Uhrzeiten, Aussagen von Ärzt:innen – all das kann helfen, wenn man sich später auf eine Zweitmeinung beruft. Zweitens: Unterstützung mitnehmen. Drittens: Ärzt:innen gezielt auswählen. Es gibt immer mehr Listen und Netzwerke, die feministische und rassismuskritische Ärzt:innen empfehlen. Und wenn gar nichts hilft: Bei der Ärztekammer melden! Das ist zwar mühsam, aber nötig, um das System langfristig zu verändern.

Auf deinem Account sprichst du darüber, dass vor allem Frauen und BIPoC-Patient:innen von Ärzt:innen nicht ernst genommen werden. Woher kommt das?

Das hat historische, aber auch aktuelle Gründe. Es ist wichtig, zu verstehen, dass es schon immer einen engen Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Kolonialismus und Krankheit gab. Medizin wurde lange Zeit fast ausschließlich von weißen Männern für weiße Männer gemacht. Wenn Menschen unnötig sterben, weil sie gar nicht als wichtig genug erachtet werden, um in Forschung und Praxis repräsentiert zu sein, dann ist das auch eine Art des Aussortierens, des Sterbenlassens von marginalisierten Menschen.

Wie kann Medizin weniger weiß, männlich und eurozentriert werden?

Die Veränderung muss auf mehreren Ebenen stattfinden: in der Forschung, in der Ausbildung und in der praktischen Versorgung. Wir brauchen diversere Daten, heißt: mehr Studien mit weiblichen, gender-queeren, nicht-weißen, behinderten und älteren Proband:innen. Außerdem braucht es eine kritische Reflexion in der Ausbildung – Rassismus und Sexismus in der Medizin müssen Teil des Curriculums sein, genauso wie gendersensible Medizin. Und letztlich müssen wir es schaffen, mehr Ärzt:innen mit diversen Hintergründen in leitende Positionen zu bringen. Denn nur so ändert sich auch die Perspektive auf das, was "normal" ist.

Du hast dich kürzlich an der Seite von Linken-Politikerin Heidi Reichinnek gezeigt. Was kann die Politik gegen Diskriminierung im Gesundheitswesen tun?

Ich bin irgendwie unverhofft, aber dafür mit Anlauf in die Politik gerutscht. Umso mehr freue ich mich, Menschen wie Heidi kennenlernen zu dürfen, die verstehen, dass Gesundheit frei zugänglich, inklusiv, gerecht und ein Menschenrecht für alle sein sollte.

Heißt?

Das bedeutet konkret, dass die Politik Forschungsgelder nicht mehr nur in klassische "Männerkrankheiten" stecken sollte. Es braucht mehr verpflichtende Fortbildungen für Ärzt:innen zu geschlechtersensibler und rassismuskritischer Medizin. Und es müssen Gesetze her, die Krankenhäuser und Praxen zu diversitätssensibler Versorgung verpflichten – nicht nur als Empfehlung, sondern als verbindliche Vorgabe.

Was würdest du tun, wenn du für einen Tag Gesundheitsminister wärst?

In letzter Zeit werde ich bombardiert mit Kommentaren wie "Wann Dr. Mertci als Gesundheitsminister?" oder "Gesundheitsminister Mertci vor GTA 6". So delulu wie ich bin, schließe ich das nicht komplett aus, aber bitte noch nicht in diesem Jahrzehnt. Rein hypothetisch würde ich aber als Erstes die Bezahlung von Pflegekräften massiv anheben – ohne sie läuft das System nicht. Schlechter als Herr Spahn werde ich's schon nicht machen, denk' ich.

Wie reagieren Kolleg:innen, wenn du online über Rassismus und Sexismus in der Medizin sprichst?

Manche sind dankbar, dass ich diese Themen anspreche. Andere wiederum fühlen sich angegriffen und reagieren mit Abwehr. Besonders spannend ist, dass es oft junge Mediziner:innen sind, die sich aktiv mit diesen Themen auseinandersetzen – während ältere Kollegen häufig sagen: "So schlimm ist das doch gar nicht".

"Humor ist oft die beste Waffe gegen Unsinn."

Auf Tiktok reagierst du auf Trends oder Leute, die Falschinformationen verbreiten: Wie entscheidest du, worauf du reagierst?

Meine vorgeschlagenen Reels und For-You-Page sind katastrophal: Misogynie, Rassismus und Fehlinformationen verpackt als "medizinischer Rat". Ich überlege mir immer, welche Inhalte besonders gefährlich sind. Wenn Menschen durch falsche Gesundheitsinformationen ernsthaft Schaden nehmen könnten, dann sehe ich es als meine Aufgabe, aufzuklären. Die Entscheidung, worauf ich reagiere, hängt aber auch davon ab, ob ich noch lachen kann oder schon komplett fassungslos bin.

Wie gehst du damit um, wenn absurde Gesundheitstipps auftauchen, wie etwa die Empfehlung, sich Eigenurin ins Gesicht zu schmieren?

Humor ist oft die beste Waffe gegen Unsinn. Wenn ich solche Trends sehe, frage ich mich immer: Woher kommt das? Ist es eine Marketingmasche, ein alter Mythos oder einfach nur Clickbait? Viele Menschen haben ein riesiges Misstrauen gegenüber der Medizin, was ja auch nicht unbegründet ist – aber das führt dann dazu, dass sie sich lieber ihren Urin ins Gesicht schmieren, statt eine vernünftige Hautpflege zu nutzen. Ich versuche dann, die Absurdität aufzuzeigen, ohne die Leute zu verurteilen, die darauf reinfallen. Aber ja, manchmal kann ich mir ein Augenrollen nicht verkneifen oder werde auch mal sauer.

Kann Wissenschaft in Social Media noch gegen Falschinformationen bestehen?

Ja, aber es ist ein ständiger Kampf. Wenn wir es schaffen, Wissenschaft verständlich, unterhaltsam und nahbar zu vermitteln, dann hat sie eine echte Chance. Wir brauchen fundierte und starke Gegenstimmen gegen medizinische Missinformation und dürfen selbsternannte Gesundheitscoaches, Aluhut-Querdenker und rechte Rhetorik nicht kommentarlos stehen lassen.

Hat jemand schon mal seine/ihre Meinung aufgrund deiner Aufklärungsarbeit geändert?

Ja, und das ist eines der schönsten Dinge an meiner Arbeit! Ich bekomme regelmäßig Nachrichten von Menschen, die mir sagen, dass sie durch meine Inhalte ihre Sicht auf bestimmte Themen verändert haben. Sei es jemand, der jetzt eine Endometriose-Diagnose hat, weil sie sich nicht mehr mit "Das ist halt so" abspeisen ließ. Oder Männer, die mir schreiben, dass sie durch meine Videos über patriarchale Strukturen reflektieren. Das zeigt mir, dass Aufklärung wirkt – auch wenn es manchmal nur ein kleiner Anstoß ist.

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