Morgens wird der Kaffee weggelassen, stattdessen gibt es Pfefferminztee. Denn auf Social Media gilt es aktuell als eine Art Todsünde, Koffein auf leeren Magen zu trinken. Der Grund: Der Cortisol-Spiegel könnte steigen. Und damit wären Pickel, Haarausfall und sogar Unfruchtbarkeit quasi vorprogrammiert.
Ist diese Cortisol-Entgiftung wirklich sinnvoll? Aus medizinischer Sicht steckt nur wenig dahinter. Watson erklärt dir, warum.
Cortisol ist auch als das Stresshormon bekannt. Grundsätzlich ist es dafür da, uns in herausfordernden Situationen belastbar und fit zu halten. Wenn wir zu viel davon ausschütten, können wir uns gestresst fühlen.
Hormone wie Adrenalin oder Cortisol werden vom Körper freigesetzt, wenn wir viel leisten müssen. Sie stellen zum Beispiel Glukose für das Gehirn bereit. Cortisol trägt außerdem dazu bei, dass der Blutdruck gesteigert und die Atemfrequenz beschleunigt wird. Außerdem pumpt das Herz schneller.
Das Hormon erfüllt im Körper auch eine Schutzfunktion: Es hat unter anderem einen positiven Einfluss auf das Immunsystem und hemmt Entzündungsprozesse. Wir werden auch kurzzeitig leistungsfähiger und sind nicht so schnell erschöpft. Grundsätzlich ist das Hormon also sehr wichtig und erfüllt viele wesentliche Aufgaben.
Auch wenn das Hormon viele bedeutende Aufgaben erfüllt, kommt es natürlich auf die Balance an. Wer trauert, Mobbing erlebt, chronisch gestresst ist oder exzessiv Sport treibt, kann aus gutem Stress schlechten Stress machen.
Betroffene können beispielsweise schlecht schlafen, fühlen sich kraftlos oder spüren eine innere Unruhe. Teilweise können auch Magenprobleme oder eine Gewichtszunahme auftreten. Die verstärkte Fetteinlagerung ist auf Social Media als Cortisol-Face bekannt. Zu den möglichen Symptomen zählen auch Libidoverlust, Bluthochdruck, schlechte Wundheilung und Wassereinlagerungen.
All diese Symptome müssen nicht mit einem erhöhten Cortisol-Spiegel zusammenhängen. Es gibt dafür auch viele andere Ursachen.
Um all die Symptome zu eliminieren, wird auf Social Media dazu aufgerufen, vor allem den morgendlichen Kaffee vom Speiseplan zu verbannen. Ernährungswissenschaftler Martin Smollich berichtet auf Instagram, dass er den Cortisol-Hype für völligen Irrsinn hält.
Er erklärt, dass es Studien gibt, die bestätigen, dass der Kaffee am Morgen den Cortisol-Spiegel minimal ansteigen lässt. Viele andere Studien zeigen allerdings gar keinen Effekt. Er weist darauf hin, dass in einer der großen Kaffee-Studien längst aufgefallen wäre, wenn der Cortisol-Spiegel am Morgen durch den Kaffee stark ansteigen würde.
Wer gerade in einer schwierigen Phase steckt und den Cortisol-Spiegel und das Stresslevel allgemein senken möchte, kann das natürlich trotzdem tun. Hier eignet sich zum Beispiel moderate Bewegung. Yoga oder ein Spaziergang an der frischen Luft können schon helfen. Ein intensives Workout vor dem Schlafen ist allerdings nicht so sinnvoll.
Abendrituale können beim Einschlafen helfen und Entspannungstechniken wie Atemübungen tragen dazu bei, auch tagsüber ein wenig runterzukommen. Kaffee, Alkohol und Fastfood in rauen Mengen sind hingegen nicht zu empfehlen. Eine insgesamt ausgewogene Ernährung ist auch hilfreich.
In einer Pressekonferenz anlässlich des 68. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie e.V. (DGE) sprach sich Endokrinologin Birgit Harbeck gegen den Trend der Cortisol-Entgiftung aus.
Sie verwies darauf, dass Cortisol ein lebenswichtiges Hormon sei. Der Cortisol-Spiegel unterliege zwar tageszeitlichen Schwankungen, im Normalfall werde er aber vom Körper selbst reguliert. Dass wir morgens einen höheren Cortisol-Spiegel als nachts haben, sei ebenfalls völlig normal.
Besonders kritisch betrachtet Harbeck auch die Cortisol-Tests, die man online erwerben kann. Diese "führen dazu, dass wir verängstigte Patienten in den Praxen sehen, die glauben, dass sie einen Überschuss haben". Problematisch sei vor allem, dass die Tests "nicht valide, irreführend und ungenau" seien.
Schwankungen des Cortisol-Spiegels im Laufe des Tages sind völlig normal. Dass es sich dabei um eindeutige Hinweise auf das sogenannte Cushing-Syndrom handelt, ist eher unwahrscheinlich. Diese Erkrankung, ausgelöst durch zu viel Cortisol, wird in den sozialen Medien thematisiert und oft mit dem Cortisol-Face in Verbindung gebracht. Beim Cushing-Syndrom handelt es sich um eine seltene Erkrankung. Es hat eine Häufigkeit von zwei bis fünf Fällen pro eine Million Einwohner pro Jahr.
Wer ernsthaft davon ausgeht, einen erhöhten Cortisol-Spiegel zu haben, kann sich natürlich an die Hausärztin oder den Hausarzt wenden. Diese:r wird dann bei einem begründeten Verdacht an eine:n Endokrinolog:in überweisen. Die Endokrinologie setzt sich mit Störungen in der Produktion und Wirkungsweise von Hormonen auseinander.
Die Angst vor einem steigenden Cortisol-Spiegel ist also in den allermeisten Fällen unbegründet. Und sie hat einen ironischen Nebeneffekt: Durch Angst kann der Cortisol-Spiegel ansteigen.