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Interview

Lokführer berichtet von Arbeitsbedingungen – und den Hintergründen des Bahn-Streiks

Der Lokführer-Streik der Gewerkschaft GDL soll noch bis Dienstag, 2 Uhr, dauern.
Der Lokführer-Streik der Gewerkschaft GDL soll noch bis Dienstag, 2 Uhr, dauern. Bild: Moment RF / Rob Kints
Interview

"Irgendwo ist auch Unterkante Oberlippe": Lokführer über seinen Arbeitsalltag – und die Streik-Gründe

03.09.2021, 15:0603.01.2024, 09:44
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Das Arbeitsgericht in Frankfurt hat am Donnerstagabend die Klage der Deutschen Bahn abgewiesen. Die hatte darauf gepocht, dass der derzeit laufende Streik der Gewerkschaft GDL nicht rechtmäßig sei und legte Berufung ein. Doch auch diese wurde am Freitag vom Hessischen Landesarbeitergericht in Frankfurt abgewiesen. Somit geht der Arbeitsausstand weiter – derzeit soll er bis Dienstag, 2 Uhr morgens dauern.

Andreas Uhlig ist Lokomotivführer und ehrenamtlicher Sprecher der GDL-Jugend, der Jugendorganisation der Gewerkschaft. Er erzählt watson die Gründe des GDL-Streiks, von seinem Arbeitsalltag als Lokomotivführer – und was ihn daran stört.

watson: Wie sieht Ihr Alltag als Lokomotivführer aus?

Andreas Uhlig: Gleich vorweg, weil das immer noch in den Köpfen ist und auch in den Medien immer wieder auftaucht: Wir sind keine Lokführergewerkschaft, sondern Eisenbahnergewerkschaft. Fragt man in einer Schulklasse nach: Was möchtest du werden, wenn du zur Eisenbahn gehst? Dann wird da zu 90 Prozent Lokomotivführer gesagt. Das ist eben nur ein Sinnbild für die ganze Eisenbahn.

Andreas Uhlig ist 41 und ist seit 2003 Lokomotivführer bei der Deutschen Bahn. Außerdem ist er ehrenamtlicher Sprecher der GDL-Jugend.
Andreas Uhlig ist 41 und ist seit 2003 Lokomotivführer bei der Deutschen Bahn. Außerdem ist er ehrenamtlicher Sprecher der GDL-Jugend.privat

Wie sieht ein normaler Arbeitstag für Sie aus?

Der Lokomotivführer hat einen ähnlichen Schichtablauf wie der Bordgastronom und Zugbegleiter. Der eigentliche Inhalt der Arbeit und die Aufgaben sind natürlich anders – aber es läuft ähnlich ab. Mein Arbeitsalltag sieht so aus: Ich beginne meine Schichten erst, wenn ich auf der Arbeit ankomme. Ich ziehe mich also in meiner privaten Zeit um – wenn ich das denn tue. Ich habe momentan keine Unternehmens-Bekleidungs-Tragepflicht. Die Zugbegleiter machen das in ihrer Freizeit, trotz Gerichtsurteil, die Bahn weigert sich, das umzusetzen.

Wie geht der Tag weiter?

Dann packe ich alles in meine Tasche, gehe in den Vorbereitungsraum und schalte alles ein, also das Tablet und das Smartphone. Und von der Einschalte – also dem Dienstbeginn – bis zum Losfahren habe ich zehn Minuten Zeit, mich auf alles vorzubereiten. Also gehe ich runter zum Zug und löse dann die Kollegin oder den Kollegen ab und wir fahren dann entsprechend dahin, wo mir mein Schichtauftrag es sagt. Dort ist dann meistens eine Pause, eine Tätigkeit, eine Unterbrechung, je nachdem. Und dann geht es wieder zurück oder in eine komplett andere Himmelsrichtung. Normalerweise komme ich als Lokführer aber irgendwann mal im Laufe der Schicht wieder zurück. Und dann trete ich den Fußweg an in die Dienststelle – und so wie ich den Fuß reinsetzte, endet meine Schicht aber auch schon. Dann muss ich wieder alles in meiner Freizeit wegräumen, ausschalten und gehe dann meiner Wege wieder nach Hause. Ausnahme sind die Übernachtungsschichten, die dann auswärts im Hotel enden. Am nächsten Tag macht man in dem Fall seine nächste Schicht und fährt dann meistens wieder nach Hause. Also im Normalfall sieht so eine normale Schicht aus.

"Wir wollen dort nirgendwo eine Holzklasse schaffen in der Arbeitnehmerschaft. Das gibt es für uns nicht. Wir sollen alle das Gleiche bekommen."

Haben Sie die gleichen Forderungen wie die die Gewerkschaft der Deutschen Lokführer oder noch einmal eigene Forderungen?

Die Forderungen sind annähernd gleich. Es gibt kleine Nuancen, die berufsspezifisch bedingt sind, die sind anders. Was aber Nachtzulage, Nachtarbeitszeit, die Ruhe- und Außenzeiten betrifft – oder die Erhöhung des Entgelts sowie die Corona-Beihilfe angeht, da fordern wir das Gleiche. Das sind alles Fragen, die auf jeden einzelnen Betriebseisenbahner oder Eisenbahner im systemrelevanten Bereich anzuwenden sind. Wir wollen dort nirgendwo eine Holzklasse schaffen in der Arbeitnehmerschaft. Das gibt es für uns nicht. Wir sollen alle das Gleiche bekommen. Das ist eine Forderung dieses Eisenbahn-Flächentarifvertrags, den wir wollen. Der beinhaltet auch jede künftige Entgelterhöhung: Wir fordern, dass in Zukunft jeder das gleiche Gehalt bekommen soll.

Was halten Sie persönlich von den Arbeitsbedingungen bei der Deutschen Bahn?

Mich stört am meisten das Thema Digitalisierung. Das ist für mich mit dem Kopf durch die Wand gemacht. Digitalisierung ist für mich persönlich und für viele andere auch eigentlich ein Thema, das unterstützend sein soll. Im Vordergrund steht der Mensch. Der Mensch kann schnell agieren, der braucht keine Algorithmen. Der Mensch kann sofort reagieren, kann logisch denken. Das schafft kein Computer, niemand, und das sollte er auch nicht.

Sind digitale Geräte also keine Hilfe bei Ihrem Job?

Es läuft im Moment nicht darauf hinaus, dass wir entlastet werden. In der Führungsstelle einer Lokomotive oder eines Betriebszugs haben wir derzeit sechs Displays. Wir haben zwar ein extra Fahrplan-Display im Zug, aber zusätzlich noch mal bis zu vier Dokumente für Streckenabschnitte auf dem Tablet. Jetzt fahren Sie mal mit dem Auto und bedienen dabei das Tablet. Wenn Sie da aber jemand erwischt, kostet das richtig viel Geld – zu Recht, weil das ja gefährlich ist. Bei der Eisenbahn fragt aber niemand danach. Also, wir dürfen nicht nur während der Fahrt mit dem Tablet arbeiten, wir müssen das sogar. Und am besten noch während der Fahrt etwas suchen, ändern, machen und tun.

Das hört sich anstrengend an.

Trotz Lesezeichen bin ich immer noch abgelenkt. Selbst bei 40 km/h macht das keinen Unterschied. Es macht im Zug keinen Unterschied ob man 40 oder 300 km/h fährt bei sowas. Ich suche also in dem Tablet etwas, muss dabei aber auch noch weiter nach vorne schauen, wie weit ich Luft habe. Normalerweise müsste ich anhalten. Das ist in meinen Augen einfach ein hausgemachtes Problem. Das gehört alles in den Fahrplan, das sollte alles schön vorbereitet sein und dann kann die Fahrt vorangehen. Das ist so das Problem, das den Beruf des Lokomotivführers betrifft.

Wie ergeht es anderen Bereichen?

Wenn ich mir die Bordgastronomen und Zugbegleiter anschaue, dann wird mir angst und bange. Die fahren quer durch die Republik, übernachten dort noch irgendwo. Aber die bekommen kein Frühstück gezahlt, das gibt es bei der Deutschen Bahn nicht. In den Niederlanden ist das so vorgeschrieben, dass die Bahnangestellten auch ein Frühstück kriegen. Das gibt es bei uns alles nicht. Und die Umsteigezeiten der Bordgastronomen sind Wahnsinn: Der nimmt fix seine Sachen, das Portemonnaie, packt alles ein, springt aus dem Zug raus, rennt zum nächsten Zug und steigt dort ein. Wenn es Verspätung gibt, kümmert sich keiner darum, dass der Zug stehen bleibt und sagt: "Wir nehmen das Personal jetzt mit, wir wollen ja Geld verdienen mit der Bordgastronomie." Nö, die sind nicht betriebsrelevant, die bleiben da stehen, die sollen sehen, wie sie nach Hause kommen. Das ist ganz krass. Und das müssen wir dringend anpacken.

Das kling nicht sehr arbeitnehmerfreundlich.

Wenn man jetzt mal in die Schulklassen reingeht und fragt: Wer will mal zur Eisenbahn gehen? Da melden sich die wenigsten. Die Probleme sind in der Familie bekannt, auch ohne groß darüber zu schimpfen. Die Kinder sehen das ja selber: Papa und Mama kommen nach Hause, schlafen, haben noch früher Dienstbeginn als am Vortag und das zieht sich über mehrere Tage hin. Das macht einen irgendwann auch wirklich fertig. Ich stecke das noch weg, also eine Weile lang. Irgendwann ist es aber auch genug. Dann wird es kritisch.

Also glauben Sie nicht, dass Sie ihren Job unter jetzigen Bedingungen bis zur Rente ausführen können?

Momentan sieht es wahrscheinlich nicht danach aus. Mal schauen, ob ich damit klarkomme oder nicht. So wie es jetzt läuft, würde ich das nicht bis zur Rente durchziehen können.

Wie geht es Ihnen und Ihren Kollegen denn derzeit?

Wir sind alle stolze Eisenbahner, wir sind stolz auf unsere Berufe. Wir können auch richtig stolz darauf sein und das leben wir auch. Aber irgendwo ist auch Unterkante Oberlippe. Es reicht irgendwann. Wir werden kaputt gespielt. Es gibt 3.500 Führungskräfte, also einen Haufen Häuptlinge und wenige Indianer. Und nur Theater. Ein Beispiel: Jemand, der Mechatroniker lernt, kriegt seinen Facharbeiter und wäre normalerweise in der freien Wirtschaft sofort einzusetzen. So jemand ist bei uns aber der Hilfsarbeiter, aufgrund von fehlenden Zertifikaten. Das merkt er natürlich in seiner Eingruppierung. Die ersten Monate läuft er erstmal in seiner niedrigen Eingruppierung nebenher. Mit wenig Lohn. So was ist unverständlich. Das muss in Zukunft auch geändert werden, da muss man massiv eingreifen.

Und wollten Sie denn schon schon immer Eisenbahnführer werden?

Ja, das ist für mich ein absoluter Kindheitstraum. Ich weiß nicht, wie ich dazu gekommen bin, keine Ahnung. Es ist kein Gendefekt. (lacht) Von mir ist keiner aus der Familie bei der Eisenbahn gewesen, ich bin der Erste.

Was hat Sie an dem Beruf fasziniert?

Das schnell und weit Fahren, das ist mein Ding. Dann auch die Technik und dazu auch das Betriebliche, also die betrieblichen Abläufe. Das Fahren von Maschinen gehört auch dazu. Bei den alten Fahrzeugen der Reichsbahn saß der Lokführer relativ weit oben. Das hat schon fasziniert, da hochzugucken und zu sagen: "Wow, das will ich auch mal machen." Auf die Landschaft, auf die Bahnstrecke und die Menschen nach unten sehen. Aber nicht respektlos oder überheblich. Es hat einfach etwas Erhabenes, es ist was Schönes, das gehört mit dazu und das begeistert mich auch immer wieder.

Und wenn Sie jetzt die Arbeitsverhältnisse bemängeln, bereuen Sie dann, dass Sie den Job jetzt ausgewählt haben?

Nein, das würde ich nicht unbedingt sagen. Es gibt zwar manchmal Gedankengänge: Hättest du nicht auch was anderes lernen können oder tun können? Aber alleine die Tatsache, dass es Schichtdienst gibt, finde ich gut. Ich fühle mich da unwahrscheinlich wohl. Ich habe an Tagen wie heute zum Beispiel frei. Ich kann ein paar Sachen erledigen. Das können manche andere nicht. Ich mag den Schichtdienst – aber nicht, wie er umgesetzt ist. Aber das ist so, das liebe ich einfach. Das würde mir in einem anderen Beruf eigentlich fehlen. Bereuen würde ich meine Berufswahl nicht. Ich mache das Beste draus, so wie es irgendwie geht.

Und wie sieht das aus?

Am Spind habe ich tatsächlich einen Magnet-Notizblock, da schreibe ich Schrecklichkeiten drauf. Dann mach' ich den Spind zu und damit habe ich das hinter mir gelassen. Es gibt viele Sachen, die sind einfach ärgerlich, aber das ist halt in jedem Beruf so. Da muss man dafür kämpfen, dass es sich ändert. Es gibt Dinge, die sind berufsspezifisch, die sind halt da, die gehören dazu, die lassen sich nicht ändern und damit muss man leben. Aber es gibt viele Sachen, die man ändern muss und dafür gibt es Gewerkschaften und Betriebsräte, die sich dafür starkmachen, dass sich etwas ändert.

Wenn ein kleines Kind sagen würde, es will Lokführer werden, würden Sie dem eher abraten?

Ich würde sagen: Überleg' dir das ganz genau. Ich würde mit offenen Karten spielen und sagen: Das und das kommt auf dich zu. Das hast du zu erwarten. Aber ich würde auch dazu sagen: Es ist stolzer Beruf. Aber du musst ihn echt mögen, du musst auf jeden Fall ein Faible dafür haben. Und auch das Gespür dafür, dir nicht alles gefallen zu lassen.

Haben Sie zum Abschluss Vorschläge, wie man es besser machen kann?

Meine persönliche Meinung ist, dass der Konzern es einfach zu lasch sieht, was da passiert. Die Fliegerei, die schau ich mir immer gern als Vergleich an: Wie läuft das bei denen ab? Da gibt es ganz klare Gesetze, die die umzusetzen haben. Da gibt es Checklisten, die abgearbeitet und geprüft werden. Und bei uns, da ist das manchmal gefühlt in bisschen Larifari, so wie mit dem Tablet zum Beispiel. Da gehören für mich einheitliche Strukturen rein – und die müssen auch kontrolliert und auch geahndet werden. Das ist ein hochsensibler Sicherheitsbereich, da ist nicht einfach so ein bisschen Larifari. Rein theoretisch kann ich auch in eine Lokomotive steigen, ohne Ausbildung und kann damit sofort losfahren. Ich kann alle sicherheitsrelevanten Geräte ausschalten und kann mit dem Zug einfach quer durch die Republik fahren.

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