Vergangene Woche wurde der Impfstoff Biontech für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren freigegeben. Für viele Eltern bedeutet das eine Erleichterung – für andere wiederum kommen Zweifel auf: Kann ich mein Kind nun wirklich bedenkenlos impfen?
Mediziner sind sich da nicht ganz einig. "Wenn wir impfen, tun wir das primär aus Eigennutz des Impflings", sagte der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Burkhard Rodeck, der "Welt". Bei Corona wisse man aber, dass insbesondere jüngere Kinder meistens eine sehr überschaubare primäre Krankheitslast hätten. Wenn sie gleichwohl geimpft werden sollten, geschehe dies vorrangig "aus Gründen des Fremdnutzens für die Erwachsenen", damit diese "sich nicht anstecken und schwer erkranken".
Dies sei "ein ethisches Dilemma", sagte Rodeck. Er wandte sich zwar nicht generell gegen Impfungen von Kindern. "Die Indikation sollte aber gut durchdacht sein", verlangte der Mediziner.
Auch Kinderarzt Marco Heuerding aus Bremen sieht die Frage, ob Kinder nun gegen Corona geimpft werden sollten, sehr differenziert. Mit watson hat der Mediziner darüber gesprochen, mit welchen Fragen Eltern sich nun an ihn wenden, warum er aktuell nicht alle Kinder impfen würde – und warum die Entscheidung der EU, nun auch jüngere Menschen zu impfen, dennoch richtig war.
watson: Melden sich bereits viele Eltern bei Ihnen, um ihre Kinder impfen zu lassen?
Marco Heuerding: Es melden sich viele Eltern, ja. Aber die meisten wollen erst einmal meine Einschätzung zur Impfung bei Kindern hören. Viele machen sich Gedanken um Nebenwirkungen oder Langzeitschäden durch den Impfstoff.
Und was sagen Sie dazu?
Ich denke, man sollte auf die Ständige Impfkommission hören, die noch keine allgemeine Empfehlung ausgesprochen hat. Die Datengrundlage bei 12- bis 15-Jährigen ist einfach noch recht dünn, weshalb ich es auch nur vernünftig finde, etwas abzuwarten. Die Zulassungsstudie von Biontech/Pfizer beinhaltete 2200 Kinder von denen 1100 geimpft wurden, das sind nicht viele. Was man bisher weiß, ist aber vielversprechend: Schwere Nebenwirkung blieben bislang aus. Die Datenmenge wird sich jetzt auch schnell vergrößern, schließlich werden Teenager in den USA bereits in großem Umfang geimpft und auch einige europäische Länder haben bereits mit dem Impfen der Kinder angefangen.
Aber bis dahin impfen Sie in Ihrer Praxis nicht?
Doch. Wir impfen vor allem die Eltern schwerkranker Kinder, das schützt die Kleinen indirekt, so haben Frühchen-Eltern oder Familienangehörige von Kindern mit Down-Syndrom momentan Priorität. Eine schnelle Impfkampagne für die Kinder ist derzeit praktisch kaum umsetzbar, da wir nur unzureichend Impfstoff geliefert bekommen. Wir haben immer noch lange Wartelisten für die Prioritätsgruppen 2 und 3 – bis alle Kinder an der Reihe wären, würde es also sowieso noch dauern.
Ist es dennoch eine gute Nachricht, dass die EU die Impfung für Kinder zugelassen hat?
Ja. Denn ohne die Impfung von Kindern und Jugendlichen werden wir in Deutschland keine Herdenimmunität erreichen können. Wir leben zwar in einer alternden Gesellschaft und die Impfbereitschaft unter den Erwachsenen ist relativ hoch, dennoch werden wir die Pandemie auch global nicht ohne die Impfung der jungen Bevölkerung stoppen können.
Welche Kinder würden Sie denn zuerst impfen, wenn es nach Ihnen ginge?
Wir haben bereits einige Jugendliche über 16 Jahren geimpft, die schwere Vorerkrankungen haben, Immundefekte oder ähnliches. Bei den jüngeren würde ich vermutlich bei den gefährdeten Kindern mit Chromosomenschäden oder schwerem Asthma beginnen. Man darf dabei aber nie vergessen, dass Corona-Erkrankungen bei Kindern nicht so schwer verlaufen, auch Long-Covid-Fälle habe ich bislang in unserer Praxis nicht gesehen. Risiken und Nutzen einer Impfung müssen also im Einzelfall sorgsam abgewägt werden.
Sie haben drei Kinder. Würden Sie diese impfen?
Meine Tochter würde ich impfen, ja. Die ist aber auch schon 16 Jahre alt und die Datengrundlage für Jugendliche ab 15 Jahren ist zur Zeit sehr viel besser, da hätte ich ein gutes Gefühl.
Ist es für Kinderärzte eine undankbare Aufgabe, diese Abwägung vornehmen zu müssen?
Wir müssen diese Abwägungen ja schon jetzt treffen, solange es nicht ausreichend Impfstoff für alle gibt: Wer benötigt ihn am meisten? Wer sollte an der Reihe sein? In Bezug auf die Kinderimpfung gehe ich aber davon aus, dass die Stiko demnächst eine konkrete Liste ausformulieren wird, bei welchen Vorerkrankungen sie die Impfung empfiehlt. Daran können sich Kinderärzte dann orientieren.
Für viele Kinder würde eine Impfung aber auch wieder mehr Freiheit bedeuten. Muss dieser Aspekt nicht mit berücksichtigt werden?
Genau das ist die wichtigste Forderung von uns Kinderärzten: Die Freiheit der Kinder darf nicht von einer Impfung abhängen. Wir erleben, dass viele Eltern ihre Kinder unter anderem impfen lassen wollen, damit sie wieder gemeinsam reisen oder ihre Freunde treffen können – dieser Grundgedanke erscheint politisch motiviert und in meinen Augen falsch.
Wie meinen Sie das?
Kinder sollten immer berechtigt an der Gesellschaft teilnehmen können, auch wenn sie nicht geimpft sind. Die Kinder waren nie die Pandemietreiber, haben aber unglaublich gelitten: Wir haben ihnen über lange Zeit ihre Lebensstruktur entzogen, ihre Freunde, Großeltern, Freizeit und ihre Schulumgebung. Die psychischen Folgen davon sind noch gar nicht absehbar. Sie müssen zurück ins Leben dürfen. Das bedeutet aber nicht, dass wir jetzt alle Kinder ohne Rücksicht auf die Datenlage vorschnell impfen sollten, das muss anders gehen.
Was wären denn Ihre Forderungen an die Politik?
In Regionen mit niedrigen Inzidenzzahlen sollten die Schulen öffnen und auch verlässlich offen bleiben. Bei steigenden Inzidenzen sollen sich erst einmal die Erwachsenen wieder einschränken, dann müssen sie eben zurück ins Homeoffice oder auf den Restaurantbesuch verzichten. Außerdem sollte erst einmal die Impfkampagne der Erwachsenen abgeschlossen werden. Es wäre schön, wenn möglichst schnell wirklich alle ein realistisches Impfangebot erhalten könnten.