Karina Spiess hat 135.000 Follower:innen auf Instagram, weil sie über ihren Reizdarm spricht und was sie im Alltag damit erlebt. Als "Kackfluencerin" bezeichnet sie sich daher selbst. Warum ist sie damit so erfolgreich?
Watson hat mit Karina, alias "kikidoyouloveme", über ihren Reizdarm, Tabus und ihr neues Buch "Scheiss-Angst: Schonungslos ehrlich über Reizdarm, Panikattacken und Klo-Sessions" gesprochen.
Watson: Karina, wie viel Mut hat es erfordert, mit so einem intimen Thema an die Öffentlichkeit zu gehen?
Karina Spiess: Sehr viel Mut. Ich habe mir jahrelang vorgenommen, öffentlich darüber zu sprechen, mich aber nie getraut. Jahrelang dachte ich, ich bin allein damit. Aber wenn ich mich getraut habe, darüber zu sprechen, war das Feedback oft: "Ich habe das auch und fühl’ mich allein." Oder: "Ich kenne jemanden, der das hat und niemand spricht darüber." Da dachte ich: Wenn das in meinem Bekanntenkreis schon so viele Leute haben, wie ist das, wenn man es öffentlich macht? Ich hatte damals noch nicht viele Follower. Aber als ich angefangen habe, darüber zu sprechen, war das Feedback enorm und ist immer weiter gewachsen. Es ist krass, wie viele Menschen darunter leiden.
Kamen negative Reaktion auf dein "Outing"?
Es war total okay. Ich habe gar kein negatives Feedback bekommen aus dem Familien- oder Freundeskreis. Gerade so in meinem Alter, mit 20 bis 25, wechselt man eh nochmal die Prioritäten und Freundeskreise. Mein Freundeskreis hat sich einfach noch mal gewandelt und ich glaube nicht, dass Instagram da ein Faktor war, sondern einfach das Leben.
Du hast geschrieben, dass auch Freundschaften an deinem Reizdarm-Syndrom zerbrochen sind ...
Ja schon, wenn Personen kein Verständnis dafür aufbringen konnten. Ich habe geschaut: Möchte diese Person ihre Zeit mit mir verbringen oder einfach nur einen schönen Abend haben? Daran habe ich gemessen, wie wichtig ich den Personen bin: Sehen sie die Aktivität im Vordergrund oder die Zeit mit mir? Jetzt habe ich Menschen um mich herum, die die Zeit mit mir im Vordergrund sehen. Und wenn wir in ein Café gehen, freuen sie sich mit mir und wir haben eine schöne Zeit. Aber es ist genauso schön, wenn wir uns zu Hause treffen. Ich bin halt nicht die Freundin, mit der man mega Party machen und auf Festivals gehen kann. Man hat auch Freundinnen für unterschiedliche Dinge. Ich habe Freunde, mit denen ich Deep Talk führen und zu Hause chillen kann.
Ist das okay für dich oder denkst du manchmal: Ich würde auch gerne auf Festivals gehen oder Party machen?
Auf jeden Fall. Ich habe auch FOMO, wenn ich mir Storys von anderen angucke. In unserer Branche bekommen wir Einladungen für lauter Events. Ich könnte hingehen, aber ich trau’ mich halt nicht. Da denke ich schon manchmal, ich wäre richtig gerne dabei, das sieht nach einer schönen Zeit aus. Festivals reizen mich allerdings gar nicht. Was ich unbedingt hinbekommen will und woran ich auch in der Therapie arbeite, ist, dass ich normal Essen, ins Café oder ins Kino gehen kann. Diese ganzen Freizeitaktivitäten sind aktuell nicht möglich, oder wenn, dann nur mit ganz großen Vorlaufzeiten, ganz viel Vorbereitung und ganz viel Stress.
Wurdest du mit deinen Beschwerden bei den Ärzten ernst genommen? Gerade junge Frauen hören oft, das sei alles nur psychosomatisch.
Mir ging es auf jeden Fall ähnlich. Ich habe sehr viele verschiedene Ärzte probiert. Jetzt bin ich in einer tollen Klinik, die sind spezialisiert auf den Reizdarm. Die nehmen mich ernst und wissen, wie das einschränkt, weil sie es nur mit diesen Patienten zu tun haben. Aber bei anderen Ärzten habe ich auch schon schlimme Erfahrungen gemacht. Mit 16, als ich nach einer Krankschreibung gefragt habe, weil ich so nicht in die Schule gehen konnte, haben sie gesagt: "Du musst lernen, dein Leben normal zu leben, andere Leute schaffen das auch." Aber du würdest einem Menschen mit einem Magen-Darm-Infekt ja auch nicht raten: "Geh einfach!" Klar, das ist ansteckend, aber bei Durchfall sagt man ja nicht: "Geh doch einfach wieder zur Arbeit, leb dein Leben normal weiter." Damit schiebt man einer 16-Jährigen die ganze Verantwortung zu.
Eigentlich unfair, dass Frauen so tun sollen, als ob sie nicht auf Klo müssten.
Ja, total. Das merkt man ja auch bei uns in der Schule. Als ich groß geworden bin, waren die Jungs immer die, die gefurzt und sich da für ultra abgefeiert haben. Und wenn die Mädels pupsten, wurde die eine Woche ausgelacht. Ich bin eine selbstbewusste Frau, die sagen soll: "Ich gehe mal für kleine Mädchen"? Mädels machen nur Rosen und da kommt nur Glitzer und Regenbogen raus? Diese ganze Sache hat was Kindliches und Schambehaftetes. Das zu durchbrechen, ist auf jeden Fall ein emanzipatorischer Akt.
Hattest du Angst, dass dein Freund es irgendwie eklig finden könnte?
Ja, absolut. Früher bin ich ja gar nicht offen damit umgegangen. Wir sind jetzt seit sechs Jahren zusammen und erst seit zwei Jahren kann ich offen darüber sprechen. Auf jeden Fall hatte ich Angst vor so einer Reaktion und die ersten zwei, drei Monate waren echt schlimm für mich. Man war verliebt ineinander, man wollte so viel Zeit miteinander verbringen wie es geht. Gleichzeitig hat mich mein Körper daran gehindert, weil ich auch nicht direkt mit der Tür ins Haus fallen wollte und sagen: "Ich hab Reizdarm, ich muss ganz oft kacken, es stinkt und ich habe richtig Dünnschiss." Das habe ich mich damals nicht getraut.
Wie geht dein Freund damit um?
Irgendwann habe ich es ihm am Telefon gesagt, weil es ihm nicht face to face sagen konnte. Er meinte so: "Ja dann geh doch auf Toilette, das ist doch ganz normal." Er ist von Anfang an so entspannt und locker damit umgegangen und hat Witze über Stuhlgang von anderen gemacht. Ich finde, durch Humor kann man so krass Tabus brechen. Das nimmt einfach den Druck und die Anspannung aus der Situation. Wir lachen darüber, wenn ich kackend auf dem Klo sitze und laut furze. Das Leben geht weiter und er liebt mich trotzdem noch, auch wenn solche Töne aus meinem Po kommen. Und wenn jemand sich danach abwendet, weiß ich: Mit dieser Person möchte ich keine Beziehung führen.
Du schreibst, du willst dir im Alltag nicht so viele Gedanken um deinen Reizdarm machen. Aber als "Kackfluencerin" ist das dein Job. Ist das nicht ein Widerspruch?
Ja, ich weiß, was du meinst, dass man sich zu doll mit seiner Krankheit beschäftigt. Das ist auf jeden Fall ein Faktor bei mir, aber das andere überwiegt, dass ich Menschen helfen kann und dass ich das Gefühl habe, etwas Gutes zu machen mit meiner Arbeit. Ich bekomme täglich Nachrichten von Frauen, die mir sagen, meine Arbeit hilft ihnen so sehr. Ich hatte nie das Gefühl, dass das kontraproduktiv ist. Eher im Gegenteil, weil ich mich so viel damit beschäftige und darüber spreche, verliere ich das Schamgefühl. Und dadurch geht es mir so viel besser.
Warum hast du dich dazu entschlossen, ein Buch zu schreiben?
Den Plan für ein Buch hatte ich schon super lang mit meiner Schwägerin zusammen, weil sie Ärztin ist und spezialisiert auf Reizdarm. Ich dachte immer: Damit würden wir unsere Kräfte vereinen. Mir war wichtig, dass es kein rein informativer Text ist, sondern interaktiv. Man hat Platz, um sich selbst zu reflektieren, damit man beispielsweise mit einer Liste für den Arzt herausgeht. Ich will die Leute an die Hand nehmen und zeigen, dass sie damit nicht alleine sind und andere ähnliche Probleme haben. Sehr wichtig bei dem medizinischen Part war mir auch, dass er einfach formuliert ist. Ich habe schon viele Bücher gelesen und war danach genauso schlau wie davor. Das Buch soll für Betroffene auch Spaß machen.