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Interview

Marina Weisband: "Dachte, Politik ist etwas, das Deutsche unter sich ausmachen"

Grünen-Politikerin Marina Weisband: Ihre Herzensanliegen sind die Themen Bildung und Partizipation.
Grünen-Politikerin Marina Weisband: Ihre Herzensanliegen sind die Themen Bildung und Partizipation.Bild: www.imago-images.de / Malte Ossowski/SVEN SIMON
Interview

Marina Weisband: "Ich möchte einfach eine normale Politikerin sein und nebenbei Jüdin

09.04.2023, 15:02
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Wenn Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland Opfer von Antisemitismus waren, haben wir darüber berichtet und wollten mit der jüdischen Community sprechen. Oft bekamen wir dabei zu hören: "Warum interessiert ihr euch immer nur für uns, wenn etwas passiert ist?" Das haben wir uns zu Herzen genommen und wollen deshalb genauer hinsehen. In mehreren Artikeln wollen wir uns beschäftigen mit der Frage: Wie sieht das Leben junger Menschen jüdischen Glaubens aus?

Watson hat mit der Grünen-Politikerin und Jüdin Marina Weisband darüber gesprochen, wie man Judentum normalisieren kann und warum Partizipation so wichtig ist.

Marina Weisband startete ihre politische Karriere bei der Piratenpartei.
Marina Weisband startete ihre politische Karriere bei der Piratenpartei. bild: marinaweisband

Watson: Wie setzt du dich als Politikerin für konkrete Anliegen von Menschen jüdischen Glaubens ein?

Marina Weisband: Ich bin ja nicht als Jüdin Politikerin, ich bin als Mensch Politikerin. Meine politischen Interessen liegen nicht in erster Linie in der Repräsentation von Jüdinnen und Juden, sondern in der Bildung und in der Beteiligung. Das sind meine Themen. Ich mache das durchaus bewusst, weil ich das Judentum dadurch normalisieren will. Und Normalisieren bedeutet, dass, nur weil ich Jüdin bin, das Judentum nicht unbedingt mein erstes und einziges Thema ist. Ich möchte einfach eine normale Politikerin sein und nebenbei Jüdin. Dann wird es irgendwann Normalität, dass man mich ansieht und in mir einen normalen Menschen sieht.

Und das war bisher nicht so?

Bisher begegnete man mir immer, wenn ich thematisiere, dass ich Jüdin bin, mit Anspannung. Entweder übertriebene Neugier – und es ist nichts Falsches daran, es zeigt nur, dass es nicht normal ist. Oder ins Gesicht meiner Mitmenschen trat eine Art Mitgefühl oder Mitleid. Das Hauptbild, dass hierzulande von Juden existiert, ist schwarz-weiß und stammt aus der Shoah. Leute versuchen oft, Blumenkränze vor einem niederzulegen, metaphorisch gesprochen. Mein Ziel war es immer, nebenbei und selbstverständlich Jüdin zu sein. Wenn wir also einerseits öffentlich auftreten als Jüdinnen und Juden und uns nicht verstecken, aber es auf der anderen Seite nicht zu unserem Hauptthema machen, helfen wir, das Thema zu normalisieren.

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Du willst also ein Vorbild für Menschen jüdischen Glaubens sein?

Wir müssen zu einem Selbstverständnis kommen, dass dieses Land auch unser Land ist, wenn wir Bürgerinnen sind. Dass wir hier nicht geduldete Objekte sind, dass wir nicht Fremde sind, dass wir hier nicht sind, um Deutschen zu helfen, ihr Trauma zu überwinden. Dieses Gefühl hat man oft – und zwar von beiden Seiten. Die meisten von uns sind hier in einer Weise fremd.

"Wir waren mit Überleben beschäftigt und die anderen mit Gestalten."

Warum fühlt man sich als Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland fremd?

Es gibt ganz wenige traditionell deutsche Juden. Die meisten von uns sind aus Ex-Sowjet-Ländern. Wir sind unser ganzes Leben damit beschäftigt, die Scherben unserer Identität zusammenzufügen und etwas Neues daraus zu bauen, uns zu finden und das, was in unseren Familien vor Generationen verloren gegangen ist, irgendwie wieder aufzubauen oder neu zu finden und uns neu zu definieren. Das ist ein sehr schmerzhafter, sehr harter Prozess. Mir ist einfach wichtig, dass wir damit nicht allein sind, sondern Teil dieser Gesellschaft, Teil von Deutschland.

Hattest du denn als jüdisches Mädchen genug Vorbilder, die dir das Gefühl gaben, du kannst dein Umfeld mitgestalten?

Im Gegenteil. Ich hatte als Kind das Gefühl, Politik ist etwas, das die Deutschen unter sich ausmachen. Ich habe im Fernsehen Politiker gesehen, meistens ältere, weiße Männer. Das war etwas, womit ich mich so wenig identifizieren konnte, dass ich mir nicht mal die Frage gestellt habe, ob ich einen Platz in der Politik habe. Es war für mich eine innere Selbstverständlichkeit, dass man da nicht mitzusprechen hatte. Es gab die Gestalter und es gab uns, wir haben in Hochhäusern gewohnt, am Rande der Stadt. Wir waren mit Überleben beschäftigt und die anderen mit Gestalten.

Wie bist du dann in die Politik gekommen?

Bei mir hat es sehr lange gedauert und ehrlicherweise auch viele Zufälle gebraucht. Seitdem versuche ich dazu beizutragen, dass dieses Bild im Fernsehen davon, wer ein Gestalter ist, ein anderes ist. Ich arbeite auch an vielen Brennpunktschulen. Da habe ich mit immigrierten Jugendlichen, zum Beispiel mit muslimischem Hintergrund, zu tun, die die Welt genauso sehen. Die denken: "Eigentlich erwartet hier niemand etwas von uns. Unsere Aufgabe ist hier, zu überleben. Gestalten, das tun die anderen." Mein Job ist es, ihnen zu vermitteln: "Nein, Gestalter seid ihr. Ihr seid verantwortlich für euch und eure Umgebung und ihr könnt euch dieses Recht auch nehmen und erkämpfen." Sie müssen erlernte Hilflosigkeit verlernen.

Bereust du es manchmal, dass du in die Politik gegangen bist, mit allem, was dazugehört?

Nein, ich bereue das nie.

Ich stelle mir vor, dass es unglaublich viel Kraft kostet. Gerade in diesen Zeiten ...

Das tut es, aber das treibt mich eher an. Ich bin jemand, der sich eher angesprochen fühlt, wenn es ein Problem gibt. Ich sehe das Problem und ich könnte nicht einfach passiv nebenbei stehen und gucken, wie uns das alles um die Ohren fliegt. Demokratie braucht immer Verteidiger. Und ich weiß aus meiner Familiengeschichte einerseits, was passiert, wenn man sich nicht wehrt. Und andererseits, was passiert, wenn man sich wehrt.

Mein Opa war jüdischer General in der Armee und er hat geholfen, Deutschland seinerzeit zu besiegen. Jetzt lebe ich hier in einem demokratischen Land, das nicht immer perfekt darin ist, aber immerhin sehr bemüht ist, ein gesundes Verhältnis zum Judentum aufzubauen. Ich sehe das als etwas an, für das es sich zu kämpfen lohnt. Ich werde mich nicht zurückziehen.

"Im Kampf fühlt man sich niemals sicher."

Das letzte Mal haben wir im vergangenen Jahr gesprochen. Du meintest, dass man sich als Jüdin in Deutschland nicht wirklich sicher fühlt. Ist das immer noch so?

Im Kampf fühlt man sich niemals sicher. Das Problem an einem Pazifismus, wie er hier in Deutschland Einzug gehalten hat, ist, dass man nicht mehr bereit ist, sein eigenes Leben und seine eigene Freiheit zu verteidigen. Ich sehe, wie sich eine antidemokratische Bewegung radikalisiert, und zwar sowohl auf geopolitischer als auch auf innenpolitischer Ebene. Wenn Leute wie ich, wie wir, nichts tun, überlassen wir denen das Feld und das wird in unser Verderben führen. Ich habe genug Geschichte gelernt, um das nicht zuzulassen.

Bist du zufrieden damit, wie jüdisches Leben geschützt wird?

Nein, natürlich nicht. Wie kann ich nach Halle zufrieden damit sein? Ich sehe absolut, dass Deutschland sich Mühe gibt und auch Einzelne in den Behörden. Aber es ist nicht genug. Wir sind durchsetzt von Leuten, die andere Ziele verfolgen, auch beim Verfassungsschutz. Jedes Mal, wenn ich zur Polizei gehe, ist es ein Glücksspiel. Ich wende mich gerne an die Polizei. Ich vertraue ihr auch weitestgehend und ich denke, dass die allermeisten Polizist:innen genuin daran interessiert sind, mich zu beschützen. Ich weiß aber auch, dass dieses Schreiben vom NSU 2.0, das ich bekommen habe, über Polizeikontakte gelaufen ist. Ich weiß also nie: Wem bringe ich gerade meine Anzeige? Ist das jemand, der mir hilft oder jemand, der meine Adresse in dieses Netzwerk einspeist?

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