Phia ist 25 Jahre alt, seit elf Jahren begleiten sie Migräne-Attacken.Bild: privat
Interview
16.12.2023, 15:2620.12.2023, 08:55
Mit elf Jahren erlebt Phia es zum ersten Mal: Vor ihrem Auge erscheinen Flecken und Blitze, hinter den Augenbrauen pulsiert ein Schmerz, ihr wird speiübel. Auf dem Geburtstag einer Freundin bricht sie schweißgebadet und ohnmächtig zusammen.
Ihr "Bombenkopf" war explodiert. So nennt Phia Quantius das. Die 25-Jährige leidet seit ihrer Kindheit unter heftiger Migräne, die sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit völlig aus dem Alltag kickt. Wie es ihr damit geht, und was das bedeutet, darüber hat sie jetzt ein gleichnamiges Buch geschrieben (Lübbe Life, 20 Euro), das Angehörigen und Betroffenen helfen soll.
Watson sprach mit der Hamburgerin über altbackene Migräne-Klischees, echte Hilfe und das Leben mit einem Kopf, der regelmäßig macht, was er will.
Phia arbeitet als Model und wohnt in Hamburg.Bild: privat / Daniela Glunz
watson: Welchen Migräne-Tipp kannst du nicht mehr hören?
Phia Quantius: Ungeschlagen auf Platz eins ist: "Trink ein bisschen mehr Wasser." Direkt danach kommt: "Geh mal an der frischen Luft spazieren." Übrigens einer der schlechtesten Tipps, den man geben kann, denn Migräne verschlimmert sich oft bei Licht und den Geräuschen, denen du draußen ausgesetzt bist. Was ich neuerdings ständig höre, ist, man solle die Füße in heißes Wasser stecken, dann würde Migräne verschwinden. Dieses Gerücht scheint auf Tiktok zu kursieren – bei mir klappt es allerdings nicht.
Kommen solche Ratschläge von Leuten, die Migräne haben?
Unterschiedlich, aber ich glaube, die meisten sind nicht einmal selbst betroffen. Es ist lieb gemeint, die Leute wollen mir helfen. Aber ich kämpfe seit 14 Jahren mit Migräne, natürlich habe ich schon sehr vieles ausprobiert – und auch mehr als nur genug zu trinken.
"Migräne wurde lange als weibliche Ausrede abgetan."
Liegt es daran, dass Leute Migräne mit Kopfschmerzen verwechseln und denken: "Das hatte ich auch mal, dass mir der Kopf wehtat"?
Bestimmt, es ist ja nur menschlich. Wenn man etwas nachempfinden will, hält man sich an das, was man kennt. Und jeder hatte schon mal Kopfweh nach einem Tag in der Sonne oder einen dröhnenden Kater nach zu viel Alkohol, vielleicht sogar mit Übergeben.
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Das Wort Migräne habe ich als Kind bei "Pünktchen und Anton" gelernt. Da schrieb Erich Kästner über Pünktchens Mutter: "Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat."
Migräne wurde lange als weibliche Ausrede abgetan. Ich erinnere mich auch daran, wann ich das Wort zum ersten Mal von jemand anderem gehört habe. Das war in einem Film, den wir in der Unterstufe sahen, in dem ein Mann nach Hause kam und es war unaufgeräumt. Die Frau sagte: "Ich hatte heute Migräne", aber heimlich war sie shoppen gegangen. Diese Klischees sind tief verankert.
Du hast Migräne mit Aura. Was bedeutet das?
In der Medizin wird Migräne meist in zwei Kategorien aufgeteilt: Migräne mit Aura und Migräne ohne Aura. Mit Aura bedeutet in der Regel, dass die Betroffenen auch Sprech- und Sehschwierigkeiten haben. Es gibt aber noch viel mehr Faktoren und Kategorien in der Neurologie. Für die Ärzte ist vor allem der Auslöser wichtig, um entsprechend behandeln zu können. Es gibt hormonelle Migräne, die vor allem bei Menschen mit Gebärmutter auftreten, aber auch verschiedene Formen von Migräne wie vestibuläre Migräne und sogar Bauchmigräne. Als ob das nicht kompliziert genug wäre, kann sich Migräne übrigens auch im Laufe der Zeit wandeln.
"Ich liege bis zu zwei, drei Tage komplett flach und habe Schmerzen. Meist übergebe ich mich dabei auch."
Wie läuft ein Migräneanfall ab?
Ich kann nur von meiner eigenen Migräne berichten, das ist mir wichtig zu sagen. Meine Anfälle teile ich oft in fünf Phasen. In den Tagen davor kommen die ersten Vorboten. Ich kriege Heißhunger auf Chips, bin sehr müde und erschöpft. Der nächste Schritt ist der Tag, an dem es beginnt. Da starten die Sehstörungen und Halluzinationen, die Aura also. Ich sehe glitzernde schwarze Punkte, manchmal auch blinde Flecken. Dann kommt es zu Lähmungserscheinungen und ich kann den Körper nicht mehr bewegen. Es folgt als Drittes die Ruhe vor dem Sturm.
Klingt gruselig. Was bedeutet das?
Das ist etwa eine halbe Stunde, in der die Schmerzen nachlassen und die Aura verblasst. Doch inzwischen weiß ich, dass es dann erst richtig losgeht. Kurz danach kommt bei mir auch schon die heftigste Migräne. Ich liege bis zu zwei, drei Tage komplett flach und habe Schmerzen. Meist übergebe ich mich dabei auch. Erst, wenn der Schmerz und all die Symptome nachlassen, geht es wieder aufwärts. Das kann eine Woche dauern, bis ich mich von meinem ausgeknockten Zustand wieder berappele.
Das reißt dich permanent aus dem Leben. Was heißt das für deinen Job und dein Privatleben?
Leider habe ich tatsächlich schon viele Freundschaften verloren, weil ich sie nicht gut pflegen konnte. Besonders in jungen Jahren war ich eben schlagartig weg, wenn alle auf Partys gingen. Es braucht viel Verständnis von außen, dass ich manchmal einfach nicht verfügbar bin. In der Schulzeit hatte ich zahlreiche Fehlstunden aufgehäuft. Es war anstrengend, den Unterrichtsstoff permanent wieder aufzuholen. Man muss immer etwas härter kämpfen, nur um auf demselben Stand zu bleiben wie andere.
"Wäre ich garantiert ohne Migräne, würde ich zuerst mal in ein lautes Konzert gehen und ein Bier trinken."
Wenn du morgen keine Migräne mehr hättest – was würdest du als Erstes machen? Festivaltickets für den Sommer buchen?
Ich könnte 1000 Dinge aufzählen. Auf viele Trigger musste ich seit Jahren verzichten. Aber wäre ich garantiert ohne Migräne, würde ich zuerst mal in ein lautes Konzert gehen und ein Bier trinken. Oh Gott! Keine Ahnung, ob mir Alkohol überhaupt noch schmecken würde – wenn ja, ließe ich es safe darauf ankommen und würde bis in die Morgenstunden feiern, weil das sonst nie geht. Langfristig würde ich es genießen, ohne Angst zu sein. Mein Leben planen zu können, ohne die Sorge, dass es kurzfristig doch nichts wird. Ich würde keine Handtasche voller Medikamente mit mir herumschleppen und viel mehr Zeit übrighaben, weil Arztbesuche wegfallen. Schön wäre das.
Du sagst, dass Migräne unterschiedlich verläuft. Trotzdem hilft der Austausch mit Betroffenen. Warum?
Migräne ist eine unsichtbare Krankheit. In meiner Jugend habe ich mich damit wahnsinnig allein gefühlt, weil niemand sonst das hatte. Da ist es einfach gut, zu hören: "Du bist nicht verrückt, ich habe das auch." Vielleicht können die Tipps anderer mir nicht konkret helfen. Aber schon zu wissen, dass man nicht allein ist, tröstet. Das ist emotionaler Support.
Wie können Angehörige helfen?
Gerade weil Migräne so unterschiedlich verläuft, fragt man am besten direkt, was dem oder der Betroffenen helfen würde. Wie muss ich mich verhalten, wenn du neben mir jetzt einen Anfall hast? Brauchst du dann Wärme oder Kälte? Welche Medikamente benötigst du? Finde ich die in deiner Tasche? Brauchst du Spritzen? Und wohin kämen die, wenn du sie nicht mehr selbst setzen kannst? Das sind Dinge, die beiden Seiten Ängste nehmen können. Es ist eine große Stütze, wenn man als Betroffener weiß: Hier bin ich sicher, wenn mich jetzt ein Anfall ereilt.
Bild: Lübbe Life
Wann bespricht man das?
So früh wie möglich. Denn mitten im Anfall fährt man seinen eigenen Film. Ich kann da jedenfalls nicht mehr kommunizieren. Dann müssen meine Freunde raten. Die wissen aber schon: Tablette, Wasser, Cola, Wärmflasche und Kotzeimer sind für mich wichtig. Und wenn es länger dauert als 24 Stunden, wird der Krankenwagen gerufen.
Gibt es Lehren, die du aus deinem Leben mit Migräne gezogen hast?
Ich habe sehr viel über mich gelernt. Ich weiß komplett, wo meine körperliche Grenze ist und dass es nicht egoistisch, sondern okay ist, die zu kommunizieren. Das muss ich machen, weil ich krank bin und das hätte ich ohne Migräne vielleicht nicht gelernt. Aber ganz ehrlich: Ich würde diese Erkenntnis jederzeit eintauschen, wenn ich dafür die Krankheit nicht hätte!