Unsere Gesellschaft ist geprägt von verschiedenen Diskriminierungsformen, die verschiedene Gruppen betreffen: Ableismus richtet sich gegen Menschen mit Behinderung, Rassismus gegen Schwarze Menschen.
Dahingehend wird auch aktiv Aufklärungsarbeit geleistet. Wer nicht gerade mit völlig verschlossenen Augen durchs Leben geht, weiß, dass behindert kein Schimpfwort ist und Schwarze Menschen in unserer Gesellschaft strukturell benachteiligt werden.
Aber was steckt dahinter, wenn in einem Film der Böse mal wieder ein Russe ist? Oder man einen Witz darüber macht, dass Pol:innen klauen? Watson hat darüber mit dem Juristen und Antidiskriminierungsexperten Sergej Prokopkin gesprochen. Er kam mit 17 Jahren aus Russland nach Deutschland und weiß: Hinter solchen Stereotypen steckt Antislawismus.
Watson: Weil der Begriff wohl nicht allen bekannt ist: Was ist Antislawismus, Sergej?
Sergej Prokopkin: Antislawismus ist eine strukturelle Diskriminierungsform. Das heißt, sie kommt nicht nur in der Interaktion zwischen Menschen zum Vorschein, sondern auch auf institutioneller Ebene und kann Gesetze oder Gerichtsentscheidungen betreffen. Auf der kulturellen Ebene findet Antislawismus beispielsweise in Büchern oder Filmen statt. Oft müssen Osteuropäer:innen bestimmten Klischees entsprechen: Sie haben in Filmen überzogene Akzente, sind Kriminelle oder gehören zum Militär.
Warum gibt es diese Diskriminierungsform überhaupt?
Immer wieder gibt es unterschiedliche Anfeindungen in Bezug auf verschiedene Menschengruppen, die als Osteuropäer:innen angesehen wurden. Diese Diskriminierungsform gibt es nicht erst seit ein paar Jahren. Sie ist eine historische Entwicklung. Der Höhepunkt dieser Diskriminierungsform ist der Zweite Weltkrieg, damals wurde der Antislawismus für einen ideologischen Kampf herangezogen. Diese richtete sich vor allem gegen Slaw:innen – eine konstruierte Gruppe von Menschen, die als Untermenschen abgestempelt wurden, damit man sie ausbeuten und ermorden konnte.
Würdest du sagen, Antislawismus ist Rassismus?
Ich würde sagen, Antislawismus operiert mit rassistischen Logiken. Wenn wir uns diese Diskriminierungsform genauer anschauen, würden wir feststellen, dass in ihr Konstruktionen von "wir und die anderen" vorkommen. Es wird oft auf bestimmte phänotypische Merkmale geachtet, dazu gehören klassische Aussagen über "hohe Wangenknochen" oder "slawische Gesichtszüge". Dabei muss man allerdings Rassismus als Begriff definieren. Je nach Definition kann Antislawismus unter Rassismus fallen, oder aber auch nicht.
Wenn in einem Film der Böse mal wieder ein Russe ist, wird dann dadurch eine Art Feindbild geschaffen?
Es ist ein Stereotyp. Der Unterschied ist: Es gibt Klischees, die kann man schnell widerlegen. Stereotype sind viel tiefer verankert. Darauf greift man auch zurück, wenn man Feindbilder schaffen möchte. In Bezug auf Antislawismus sind diese Stereotype sehr klassisch: Brutalität, Trinkverhalten oder Kriminalität. Dadurch wird der Versuch unternommen, eine Abgrenzung zu schaffen.
Gibt es noch weitere Aspekte des Antislawismus?
Der Antislawismus hat viele intersektionale Verschränkungen. Da sind wir schnell bei sexistischen Stereotypen, wie beispielsweise Russinnen gesehen werden. Dann gibt es eine Verschränkung mit dem antimuslimischen Rassismus in Bezug auf Bosniak:innen, Tatar:innen oder Tschetschen:innen. Dazu kommen unter anderem noch anti-asiatischer Rassismus, Antisemitismus und Klassismus. Dabei treffen immer mehrere Diskriminierungsformen zusammen.
Woran liegt es, dass Antislawismus – im Gegensatz zu beispielsweise Sexismus – in unserer Gesellschaft nicht wirklich wahrgenommen wird?
Ich sehe das aus zwei Blickwinkeln: Zunächst finde ich es in Ordnung, dass Menschen das nicht auf dem Schirm haben, weil keine Aufklärung dazu stattgefunden hat. Dafür ist der Staat und auch unsere Gesellschaft verantwortlich. Wenn etwas nicht aufgearbeitet wurde und darauf auch politisch keinen Wert gelegt wird, ist es schwieriger das wahrzunehmen.
Und der zweite Blickwinkel?
Es ist sehr paradox: Man muss erst nachweisen, dass man Diskriminierung erlebt hat, dann muss das anerkannt werden und erst dann kann man gegen diese Diskriminierungserfahrung vorgehen. Sowas sollte es im Antidiskriminierungs- und Antirassismusdiskurs nicht geben. Jede Diskriminierungserfahrung findet zunächst individuell statt, weil sie individuell empfunden wird. Deswegen sollte man solche Erfahrungen nicht gegeneinander aufwiegen. Man kann beispielsweise aus antislawistischen Gründen beleidigt, aber auch ermordet werden, deswegen sollte auf jede Art der Diskriminierung etwa gleich viel Wert gelegt werden.
Man müsste also daran arbeiten, dass sich der gesellschaftliche Blick für diese Diskriminierungsform schärft.
Das Problem am Antislawismus ist, dass die Diskriminierung teilweise sehr subtil passiert. Heutzutage würde vermutlich niemand mehr so etwas sagen wie "Alle Pol:innen klauen". Man hört eher Sätze wie "Ich kenne da einen Witz über Pol:innen". Das ist die Gefahr, die sich hinter dem Antislawismus verbirgt: Die Diskriminierung wird nicht so richtig greifbar oder wird nicht ernst genommen. Ich glaube nicht, dass viele Menschen denken "Die Russen sind böse". Und dennoch erlaubt sich die Wissenschaftlerin Florence Gaub die Aussage "Russen sehen zwar wie Europäer aus, sind aber keine, im kulturellen Sinne". Und dann sind wir schon wieder beim kulturellen Rassismus.
Hast du das Gefühl, dass sich seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Bezug auf Antislawismus etwas verändert hat?
Ja, einerseits gibt es nun Menschen und Organisationen, die sich jetzt mit Antislawismus auseinandersetzen. Sie haben erlebt, dass ukrainische Geflüchtete von Diskriminierungsformen betroffen waren, die man bis dahin nicht greifen konnte. Der zweite Punkt: Da mehr als eine Million Menschen nach Deutschland kamen, musste man sich mit dem Thema auseinandersetzen und zwischen Russ:innen und anderen Gruppen differenzieren. Denn bis dahin wurden alle pauschal als Russ:innen abgestempelt.
Du setzt dich als Jurist dafür ein, dass Antislawismus als juristische Kategorie aufgenommen wird. Warum ist das wichtig?
Ein wichtiger Aspekt liegt im Strafrecht: Wenn man antislawistisch beleidigt wird, aber die Richter:innen vom Antislawismus noch nie gehört haben oder diesen nicht ernst nehmen, wird es auch keine Verurteilung wegen Beleidigung geben. Das kann auch weitreichendere Folgen haben: So wird beispielsweise eine Tötung aus antislawistischen Motiven zunächst nicht als Mord angesehen, wenn der rassistische oder fremdenfeindliche Hintergrund der Tat nicht als solcher anerkannt wird. Der Haken ist: Ein rassistisches Motiv erfüllt ein Mordmerkmal, sodass sich die Freiheitsstrafe auf lebenslang belaufen würde. Wenn es nicht als rassistische oder fremdenfeindliche Straftat angesehen wird, ist es ein Totschlag. Da ist die Freiheitsstrafe auf 15 Jahre begrenzt.
Gibt es gerade Fortschritte im Bereich des Antislawismus, die du beobachtest?
Es gibt drei Sachen, die ich aktuell sehe und wertschätze: Erstens, die Antidiskriminierungsstelle des Bundes weiß inzwischen, was Antislawismus ist und es gab ein Förderprojekt dazu. Zweitens gibt es jetzt das erste Buch, das explizit auf Antislawismus eingeht; "Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland" von Jannis Panagiotidis und Hans-Christian Petersen. Der dritte Aspekt ist, dass die Workshops, die ich zum Antislawismus durchführe, gefragt sind. Menschen interessieren sich für diese Problematik und sie ist präsenter als noch vor ein paar Jahren.