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Pflegekräfte aus Brasilien? Ricardo Lange mit harter Kritik an Regierungsplan

Intensivpfleger Ricardo Lange
Der Berliner Pfleger Ricardo Lange setzt sich seit vielen Jahren für bessere Arbeitsbedingungen ein.Bild: instagram/pfleger.ricardo
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Pflegekräfte aus Brasilien? Ricardo Lange mit deutlicher Kritik an Plan der Regierung

07.06.2023, 19:38
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Deutschen Kliniken laufen die Pflegekräfte weg. Seit Jahren ist dieses Problem bekannt, doch auch Streiks, Proteste und Debatten konnte die Berufsflucht nicht aufhalten, denn die Arbeitsbedingungen vieler Pflegefachkräfte haben sich dadurch nicht verbessert. Ausgebrannt, unterbezahlt und enttäuscht – so beschreiben viele ihre Stimmungslage.

Nun hofft die Bundesregierung auf eine Lösung aus dem Ausland: Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wollen künftig deutlich mehr Visa für ausländische Arbeitskräfte ausgeben, wie sie anlässlich ihrer Südamerika-Reise in der "FAZ" erklärten. In Brasilien sei "jede zehnte Pflegekraft arbeitslos – trotz guter Ausbildung", schrieben Baerbock und Heil. "Wir werden in Brasilien für den deutschen Arbeitsmarkt werben."

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Hubertus Heil (SPD) sprach auch in einer Klinik in Sao Paulo (Aufnahme vom 6. Juni).Bild: dpa / Annette Riedl

Heil zufolge hält die Bundesagentur für Arbeit die Anwerbung von bis zu 700 Pflegekräften pro Jahr für möglich. In Brasilien gibt es nach Angaben des Berufsverbands Cofen 2,5 Millionen Krankenpfleger. Hierzulande werden es immer weniger. Win-Win also?

Patientenschützer Eugen Brysch betrachtet dies mit Skepsis. Die Beschäftigung hierzulande sei "weiterhin mangelhaft". Außerdem litten angeworbene Beschäftigte an "drastisch eingeschränkten Kompetenzen des Berufsstandes (...)".

Ricardo Lange, Intensivpfleger aus Berlin
Pfleger Ricardo LangeBild: instagram/pfleger.ricardo

Auch Ricardo Lange sieht in der Brasilien-Kampagne keine langfristige Lösung. Der 41-Jährige ist Intensivpfleger in Berlin und sagt: Es wird sich erst etwas ändern, wenn die Arbeitsbedingungen stimmen. Wir sprachen mit ihm darüber.

watson: Pflegefachkräfte aus Südamerika sollen den Personalmangel in Deutschland schmälern. Ist das erfolgversprechend?

Ricardo Lange: Solange man hierzulande nicht lernt, die Pflegekräfte wertzuschätzen, ordentlich zu bezahlen und eine vernünftige Work-Life-Balance zu ermöglichen – also die Fachkräfte zu halten, die noch da sind – sind alle Bemühungen, neue Fachkräfte anzuwerben, sinnlos. Denn für 100 Pflegekräfte, die neu kommen, verlassen 200 den Job – weil die Arbeitsbedingungen nicht stimmen. Es ist absurd, dass sich die Politik immer Gedanken macht: Wie bekommen wir neue Pflegekräfte aus dem Ausland? Aber die, die den Job schon seit Jahren in Deutschland zuverlässig machen, die werden vergessen. Die streiken und machen und tun, aber es wird ihnen nicht zugehört.

Mit welchem Ergebnis?

Meine Kollegen und Kolleginnen kündigen zuhauf oder haben bereits gekündigt und die deutschen Pflegekräfte, die eine gute Ausbildung erfahren haben, die hochprofessionell sind, die wandern ihrerseits in Länder aus, wo bessere Arbeitsbedingungen für sie herrschen, zum Beispiel in skandinavische Länder oder in die Schweiz. Das ist doch kein Gewinn an Personal, das ist höchstens ein Austausch.

"Wenn wir denen nichts bieten, werden die nicht bleiben – genauso wie inländische Pflegekräfte auch."

Wie sind bislang die Erfahrungen mit Pflegefachkräften aus dem Ausland?

Fachkräfte, die aus dem Ausland kommen, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen, was die Sprache angeht und auch die Qualifikation. Das tun viele auch. Aber im hektischen Klinikalltag geht es oft um Feinheiten und das ist meiner Erfahrung nach ein großes Problem. Logischerweise sprechen viele nicht fließend Deutsch, das kann auch keiner erwarten. Aber gerade in der Pflege ist die lückenlose Kommunikation wirklich wichtig. Auf der Intensivstation muss im Notfall jede Anordnung des Arztes genauestens verstanden werden. Da darf auch bei der Übergabe eines Patienten nichts an Informationen durch eine Sprachbarriere verloren gehen oder missverstanden werden, denn das kann kritisch enden.

01.06.2022, Nordrhein-Westfalen, K�ln: Mit einem Plakat "Pflege - come in and burn out" nehmen Pflegekr�fte an einer Demonstration teil. Einen Monat dauern die Streiks der Besch�ftigten an s ...
Streikende Pflegekräfte protestieren in Köln im Juni 2022. Bild: dpa / Christian Knieps

Ein Beispiel?

Ich hatte es selbst bei einer Reanimation erlebt, dass ich meiner Kollegin, einer ausländischen Fachkraft, zurief, sie solle doch bitte den REA-Wagen (Anm. d. Red. Reanimations-Wagen) holen. Sie hat nur genickt, aber nicht verstanden worum es geht und ich musste selbst mittendrin losrennen und den Patienten loslassen. Das ist fatal.

Wer arbeitet die Menschen denn an den Kliniken ein?

Das ist das nächste Problem. Es wäre alles halb so wild, wenn man die Zeit und Ressourcen hätte, um ausländische Fachkräfte langsam an den Klinikalltag bei uns heranzuführen. Aber in der Realität ist es so, dass sie ab Tag Eins der Einstellung als volles Teammitglied zählen und direkt so eingesetzt werden, weil der Personalmangel so groß ist. Da werden denen Aufgaben übertragen, die sie vorher noch nicht gemacht haben und das ist für alle – auch für die ausländischen Fachkräfte selbst – Stress pur.

Aber die Qualifikationen müssten die Fachkräfte ja schon vorher haben?

Das schon, aber auch im Gesundheitswesen gibt es kulturelle Unterschiede. Wir haben zum Beispiel viele Fachkräfte von den Philippinen, die medizinisch top ausgebildet sind, aber den pflegerischen Teil der Betreuung kennen sie nicht, denn das wird auf den Philippinen von den Angehörigen, nicht vom Klinikpersonal übernommen. Einen Patienten zu pflegen klingt simpel, aber zum Beispiel in der neurologischen Abteilung ist es entscheidend, dass der Patient mit absoluter Präzision gelagert wird, das heißt, Kopf und Oberkörper im 30 Grad Winkel hochgelagert, Kopf achsengerecht, damit kein Druck entsteht, damit alles abfließen kann. Das sind viele Kleinigkeiten, die muss man erst einmal lernen. Den Ankommenden wird diese Zeit nicht gegeben.

"Solange die Arbeitsbedingungen nicht besser sind, werden immer mehr Menschen den Pflege-Job verlassen (...). Da können sie so viele ausländische Pflegekräfte holen wie sie wollen."

Aber könnte die Anwerbung aus dem Ausland langfristig doch eine Lösung sein?

Das Hauptproblem ist, dass die Arbeitsbedingungen weiter mies bleiben. Man glaubt, mit Fachkräften aus dem Ausland könnte man die Lücken stopfen, die dadurch gerissen werden, aber die Menschen, die herkommen, sind doch nicht doof. Die reisen nach Deutschland, werden eingearbeitet, haben aber genauso Bedürfnisse nach Erholung und Familie wie wir alle. Und dann werden sie genau an den Kliniken eingesetzt, wo die Verhältnisse eh schon bescheiden sind – deshalb sind den betroffenen Häusern ja die Pflegekräfte weggelaufen – und spätestens wenn sich die Auslandskräfte das eine Weile angesehen haben, sagen auch die: "Okay, Tschüss, dann wechsle ich eben in die Leiharbeit oder in eine andere Klinik oder verlasse das Land wieder ganz." Wenn wir denen nichts bieten, werden die nicht bleiben – genauso wie inländische Pflegekräfte auch. Das sind ja alles Menschen und keine Roboter.

Also lieber auf gute Arbeitsbedingungen setzen als auf Werbung im Ausland?

Man kann ausländische Fachkräfte nebenbei anwerben, das ist nicht das Problem. Aber man muss erst mal die Grundbasis festigen. Wenn hier alle weglaufen, weil man sich um die Leute nicht kümmert, wenn man politische Versprechen nicht einhält – wie zum Beispiel die 35-Stunden-Woche oder den Coronabonus, den ich bis heute nicht ausgezahlt bekommen habe – dann wird die Wurzel des Personalmangels nie angegangen. Solange die Arbeitsbedingungen nicht besser sind, werden immer mehr Menschen den Pflege-Job verlassen und immer mehr Fachkräfte auswandern. Da können sie so viele ausländische Pflegekräfte holen wie sie wollen, an diesem Kreislauf wird sich gar nichts ändern.

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Hast du das Gefühl, gegen den Personalmangel wird im Land nichts unternommen?

Die Zustände werden sogar weiter verschlimmert. So gibt es jetzt zum Beispiel eine Bundesratsinitiative zur Einschränkung von pflegerischer Zeitarbeit, weil zu viele Festangestellte die Kliniken verlassen. Man könnte sich ja vornehmen, die Arbeitsbedingungen und Bezahlungen des Stammpersonals zu verbessern, um ihre Flucht zu vermeiden. Stattdessen sollen nun die Arbeitsmodelle verboten werden, in denen Pflegekräfte noch etwas bessere Bedingungen vorfinden – das ist doch Perversion.

(mit Material der afp)

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