Es ist wieder Lockdown. Und auch dort, wo es keine Ausgangssperre gibt, werden viele Menschen ihr soziales Leben noch weiter herunterschrauben, sich zurückziehen, das Haus nur noch fürs Nötigste verlassen. Manche kommen gut damit zurecht, sich von Tag zu Tag zu hangeln und auf Besserung zu warten. Anderen könnte die fortwährende Angst vor der Pandemie oder dieser Wechsel zwischen Beschränkungen und Freiheiten schaden. Die Krise ist eine psychische Belastungsprobe.
Inwiefern sich Pandemie und Lockdown auf die Psyche auswirken, lässt sich aber nur schwer sagen. Anders als Covid-19 sind Krankheiten wie Angststörungen oder Depressionen nicht meldepflichtig. Ebenso ist unklar, wann jemand betroffen ist, also wer in diesen Zeiten zur Risikogruppe für psychische Erkrankungen gehört. Viele wissen es vielleicht nicht, können ihren Gemütszustand nicht einordnen. Dass sie sich Hilfe suchen, ist entsprechend unwahrscheinlich.
Um diese Probleme zumindest im Ansatz zu klären und Menschen eine Hilfestellung zu geben, sprach watson mit dem Psychiater Michael Huppertz.
watson: Wann können die Corona-Maßnahmen zur psychischen Belastung werden?
Michael Huppertz: Das hängt von den Lebensumständen des Einzelnen ab. Kämpfe ich etwa mit existenziellen Ängsten, weil ich meinen Job verliere oder verlieren könnte, habe ich wenig soziale Kontakte, lebe ich allein, dann kann mich die derzeitige Situation sehr belasten. Lebe ich aber in einer Wohngemeinschaft und bin finanziell abgesichert, sieht es wieder anders aus. Ich denke, es ist wichtig, zwischen denen zu unterscheiden, die wirklich von der Pandemie und dem Lockdown betroffen sind und denen, die es nicht oder kaum sind. Tausende vor allem alte Menschen sterben an der Pandemie und leiden vorher schrecklich. Aber der Lockdown findet nicht im Luftschutzkeller statt.
Das müssen Sie genauer erklären.
Ihre und meine Generation haben im Verhältnis zu früheren Generationen und dem, was heute in anderen Ländern passiert, keine gesellschaftlichen Katastrophen erlebt. Für manche ist die aktuelle Situation durchaus eine Katastrophe, für die meisten aber eher nicht. Die wirklich körperlich und seelisch belasteten Menschen werden übrigens auch relativ wenig beachtet, wahrscheinlich, weil viele von ihnen alt und in gewisser Weise ohnehin ausgegrenzt sind. Es gibt eine mehr oder weniger unbewusste Abwertung ihres Lebens. Insofern freue ich mich über die aktuellen Impfprioritäten der Regierung. Ich frage mich aber, wie die Gesellschaft reagieren würde, wenn von der Pandemie vor allem Kinder und Jugendliche betroffen wären.
Erhöht ein Lockdown das Risiko für psychische Erkrankungen, etwa Depressionen?
Hier ist interessant, dass für Menschen, die zu schweren Depressionen neigen, gute Umstände belastender sein können als schlechte. Sind die Menschen um sie herum glücklich, etwa bei einer Weihnachtsfeier, und sie nicht, fühlen sie sich schlechter. Deshalb müssen Krisenzeiten nicht zwangsläufig schwere psychische Erkrankungen befeuern. Leichtere, wie Angststörungen oder Zwangserkrankungen, könnten dagegen zunehmen.
Woran erkenne ich, dass sich mein Gemütszustand verschlechtert?
Ein Anzeichen ist Grübeln, ein anderes, wenn Sie viel über die Zukunft nachdenken und nur zu negativen Ergebnissen kommen, zum Beispiel, dass sich nichts mehr bessern wird, oder dass Ihnen nichts Gutes widerfährt. Weitere Warnsignale sind Schlafstörungen und Freudlosigkeit: Sie haben nichts mehr von Erlebnissen, die Ihnen sonst Freude gemacht haben – das kann ein Anruf, ein Film oder auch ein bestelltes Paket sein.
Und was sollte ich dann tun?
In solchen Fällen lohnt es sich, zunächst mit einem Allgemeinmediziner zu sprechen. Auch bieten Psychotherapeuten Notfalltermine an. Wenn Sie ständig grübeln, nicht schlafen können, wachsende Ängste haben, sollten Sie jemanden aufsuchen. Sorgen sind angemessen, aber wenn sie ausschließlich Ihren Alltag bestimmen, wird ein Gespräch nötig. Übrigens: Sollten Sie sich ständig bedroht fühlen, zurückziehen und sich in Verschwörungsideologien verlieren, wäre ebenfalls ein Gespräch mit einem Therapeuten angebracht.
Nun soll das Impfen bald beginnen. Kann diese Aussicht Halt und Mut geben?
Natürlich. Dadurch rückt das Ende der gegenwärtigen Situation ein Stückchen näher.
Im Lockdown hängen wir, wenn wir nicht allein leben, oft den ganzen Tag mit unserem Partner oder unserer Familie herum. Wie lassen sich Konflikte vermeiden?
Es wird immer gesagt, wir müssen unsere Kontakte beschränken. Das ist wichtig und richtig, aber in dem Fahrwasser dieser Kontaktbeschränkungen heißt es auch stets, etwa von Markus Söder, wir sollten zu Hause bleiben. Das halte ich für einen Fehler. Viele Menschen haben eine kleine Wohnung, hocken dort aufeinander. Da wäre es doch wesentlich sinnvoller, das Haus immer wieder zu verlassen, spazieren zu gehen, in einem Wald oder an einem Fluss. So ließen sich viele Konflikte einfach vermeiden, besonders, wenn es brennt.
Warum genau?
Wir können die Umgebung wechseln, den Kopf frei kriegen. Zu Hause hilft hingegen Kreativität. Eltern können die Situation auch als Möglichkeit begreifen, etwas Neues zu machen, vielleicht mit den Kindern die eigene Spielfreude wiederentdecken. Auch der sogenannte Anfängergeist kann helfen: Kinder und Partner so betrachten, als hätte man sie noch nie gesehen, als könnte man sie neu kennenlernen. Allerdings heißt das nicht zwingend, man müsse ständig miteinander im Kontakt sein. Wie gesagt: Gelegentlich ist der Rückzug wichtig.
Dass viele Familien nicht wie gewohnt Weihnachten feiern können, dürfte die Situation zusätzlich erschweren. Wie können wir das Weihnachtsfest möglichst sorgenfrei überstehen?
Dazu habe ich gemischte Gefühle. Dass das Weihnachtsfest zu einer stets glücklichen Veranstaltung hochgejazzt wird, ist für mich nicht nachvollziehbar. Weihnachten sorgt in vielen Familien für Spannung, sei es aufgrund einer Stress-geladenen Vorbereitungsphase oder familieninterner Konflikte, die sich in der Zeit des Zusammenkommens weiter zuspitzen. Dass die Menschen das Fest nun reduzieren müssen, könnte vielleicht auch helfen, Konflikte zu vermeiden. Vielleicht ist die Kommunikation wesentlich entspannter, wenn weniger Menschen da sind.