Es gibt ein Wort, ohne das es heute fast unmöglich ist, über Feminismus zu sprechen. Weil es so wichtig ist und die Debatte inzwischen so sehr bestimmt. Das Wort ist: Intersektionalität.
Da wir auch in diesem Text nicht drum rumkommen, einmal vorab: Beim intersektionalen Feminismus geht es darum, dass es neben Sexismus auch andere Diskriminierungsformen gibt, die ebenso abgebaut werden müssen. Rassismus zum Beispiel.
Und genau darüber hat die Autorin Sibel Schick gerade ihr Buch "Weißen Feminismus canceln" geschrieben. Watson erklärt sie, wo der Feminismus im Jahr 2024 wirklich steht. Und auch, warum sie kein Interesse daran hat, mit Alice Schwarzer einen Kaffee trinken zu gehen.
Watson: Wenn ich "Feminismus ist" bei Google eingebe, wird mir vorgeschlagen: "Feminismus ist für alle da". Stimmt das?
Sibel Schick: Ich glaube auf jeden Fall, dass Feminismus für alle da ist. Aber es gibt nicht den einen Feminismus, sondern viele verschiedene Strömungen, die für sich jeweils beanspruchen, Feminismus zu sein – sich aber teilweise sogar ausschließen. Deshalb muss man eigentlich fragen: Von welchem Feminismus reden wir? Der weiße Feminismus ist definitiv nicht für alle da.
Was genau ist weißer Feminismus?
Wenn ich von weißem Feminismus schreibe und spreche, meine ich damit nicht weiße Personen. Das Wort weiß bezieht sich nur auf die Bewegung und die Idee von Feminismus. Insofern kann auch eine weiße Person sehr wohl intersektional denken, handeln und auch schreiben.
Wie muss Feminismus heute sein?
Mir geht es um intersektionalen Feminismus und das ist ein Feminismus, der sich für jede Art der Gerechtigkeit einsetzt. Dafür muss man loslassen von dem alleinigen Fokus auf die Geschlechtergerechtigkeit. Es muss auch um andere Machtebenen gehen.
Hast du ein Beispiel?
Wir müssen uns als Feminist:innen auch mit Armut befassen. Mit nationalen Grenzen. Mit den Strukturen unserer Arbeitswelt. Wir müssen uns mit Polizei und Polizeigewalt befassen. Und ich weiß, das ist viel. Aber dieser Komplexität muss der Feminismus heute gerecht werden.
Du sagst: Feminismus kann unfeministisch sein. Was meinst du damit?
Feminismus kann nicht nur unfeministisch sein, sondern auch anti-feministisch. Es gibt in rechtsextremen Bewegungen vereinzelt Frauen, die von Feminismus sprechen und so tun, als wäre es feministisch, wenn mehr Frauen in Nazi-Strukturen sind. Das ist lächerlich.
Du meinst, Alice Weidel ist keine Feministin?
Genau. Alleine eine Frau zu sein, alleine queer zu sein oder alleine eine Partei zu führen, heißt nicht, dass eine Frau feministisch ist. Frauen mit Macht sind noch nicht feministisch. Von einer Frau diskriminiert werden, ist kein Feminismus.
Wenn Frauen mit Macht nicht reichen, was muss passieren?
Was wir machen müssen, ist: Macht infrage stellen, statt Teil dieser Machtstrukturen sein zu wollen, die nur zu Ungerechtigkeiten führen. Wenn wir so tun, als wäre Machtausübung feministisch, ist das ein Geschenk für Rechtsextreme. Die können das hervorragend instrumentalisieren und so tun, als wenn weibliche Machtausübung in Form von Rassismus und Antisemitismus und Queer- und Transfeindlichkeit Emanzipation wäre.
Wenn wir darüber sprechen, wie sich Feminismus entwickelt hat, müssen wir auch über eine andere Alice sprechen. Alice Schwarzer. Würdest du mit ihr gerne mal einen Kaffee trinken gehen?
Mit Alice Schwarzer würde ich lieber keinen Kaffee trinken gehen. Ich habe nicht das Gefühl, dass man an sie herankommt. Ich kann verstehen, wo das herkommt. Feministin zu sein, setzt eine gewisse Härte voraus. Du musst konsequent, überzeugt und ausdauernd sein. Diese Eigenschaften hat sie definitiv. Aber es fehlt ihr eine gewisse Zärtlichkeit, um das zulassen zu können, was über ihre eigene Lebensrealität hinausgeht. Aber dafür ist sie nicht alleine verantwortlich.
Was meinst du?
Alice Schwarzer hat einen Kult-Status von deutschen Medien erhalten. Sie wurde als Feministin sogar von Medien empfangen, die eigentlich anti-feministisch sind. Meiner Meinung nach liegt das daran, dass Alice Schwarzer niemals eine Art Feministin war, die eine echte Bedrohung dargestellt hat für den Status quo.
Bist du ihr dankbar für irgendwas?
Was hat sie denn genau geleistet?
Sie hat Feminismus vorangetrieben in einer Zeit, als wir nicht im Ansatz da waren, wo wir heute sind.
Ja, gut. Aber wenn sie immer noch den Feminismus macht, den sie in den 70ern gemacht hat, dann hat sie den ja gar nicht vorangetrieben. Dann ist sie immer noch da, wo sie ihn damals aufgefunden hat. Ich weiß nicht, was Alice Schwarzer geleistet hat, ehrlich gesagt. Ich weiß, dass sie dieses Magazin hat. Ich weiß aber auch, dass darin nur Menschen veröffentlichen, die genauso denken wie sie selbst.
Für die Zeit war der "Stern"-Titel "Wir haben abgetrieben" von 1971 spektakulär.
Natürlich ist es super-wichtig, dass Schwangerschaftsabbrüche von Stigmata befreit werden. Aber strafbar sind sie bis heute, von daher haben wir nichts erreicht. Dass jetzt die Informationen zugänglicher geworden sind, seit mit dem Paragraphen 219a das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche abgeschafft wurde, das verdanken wir ja nicht Alice Schwarzer.
Eine der aktuell bekanntesten Feministinnen ist Sophie Passmann. Wie feministisch ist sie wirklich, wenn sie sich beispielsweise für Schönheits-OPs ausspricht?
Ich glaube ihr, dass sie feministisch ist. Aber ich glaube gleichzeitig auch, dass ihr Feminismus nicht über ihre eigene Lebensrealität hinausgeht. Und das ist das Problem. Wenn du in der Öffentlichkeit stehst, kannst du dir das eigentlich gar nicht leisten, weil du eine Vorbildfunktion hast und Menschen und am Ende die gesamte Gesellschaft prägst. Dieser Verantwortung muss sie mit ihrem Handeln gerecht werden.
Es gibt auf Instagram und Tiktok aktuell den Trad-Wife-Trend, bei dem junge Frauen lieber Hausfrauen sind, Kuchen backen und sich am Schönheits-Ideal der 50er und 60er orientieren. Wie kann das sein?
Was in diesen Videos gezeigt wird, Torten backen zum Beispiel, steht dem Feminismus nicht zwingend entgegen. Ich habe zwei Freundinnen, die sind totale Backköniginnen und gleichzeitig Feministinnen. Aber das 50er-Jahre-Hausfrauen-Weltbild im Netz zu propagieren, ohne in Betracht zu ziehen, welche tiefgreifenden Probleme Frauen in dieser Zeit hatten, ist fatal. Das war eine düstere Zeit, in die wir nicht zurückkehren wollen und sollten. Das ist eine anti-feministische Strömung und alles andere als progressiv.
Warum wollen manche Frauen das?
Ich glaube, es gibt im Patriarchat einen Wettbewerb zwischen Frauen darum, wer bei den Männern am beliebtesten ist. Denn Feminismus ist hart und macht teilweise unglücklich. Freiheit und Unabhängigkeit und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, sind so schwierige Aufgaben. Es ist überhaupt nicht leicht, frei zu sein. Aber ein Leben, in dem du ohnmächtig bist und nicht gegen diese Ohnmacht kämpfst, macht noch unglücklicher.
Es gibt aktuell inflationär viele Ladies‘ Lunches und T-Shirts auf denen steht "The Future is Female". Bringt uns das weiter?
Wir leben in einer sehr kapitalistischen Kultur. In dieser Kultur ist alles konsumierbar. Auch der Feminismus ist zu einem Konsumgut geworden, das ist nur schlüssig. Entscheidend ist, was hinter den T-Shirts an Ideen vorherrscht. Alleine ein T-Shirt zu tragen oder einen Stoffbeutel, macht uns nicht feministischer. Feminismus ist vor allem Arbeit an sich selbst. Eine ständige Auseinandersetzung mit den eigenen Ideen und Verhaltensweisen. Es ist natürlich eine positive Entwicklung, dass viele Menschen sich heute für Feminismus interessieren, aber wenn das nur auf der Oberfläche bleibt, bringt uns das nichts.