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Generation Z: Warum junge Leute nach der Schule oft am Alltag scheitern

Viele Jugendliche wissen nach der Schule nicht viel von alltäglichen Dingen wie Briefsendungen.
Viele Jugendliche wissen nach der Schule nicht viel von alltäglichen Dingen wie Briefsendungen.Bild: iStockphoto / Miljan Živković
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Keine Ahnung vom Alltag: Ist die junge Generation "lebensdoof"?

19.10.2022, 09:40
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Frisch aus der Schule und rein ins Leben? Damit haben viele Jugendliche laut Nicole Schwalbe Probleme. Die gelernte Juristin arbeitete lange Zeit in der Jugendarbeit und ist Mutter von fünf Kindern. In ihrem Buch "Lebensdoof" bietet sie eine Anleitung fürs Überleben nach der Schule: Arbeits- und Kaufrecht, aber auch Behördengänge, Haushalt und das Versenden eines Briefs gehören dazu.

Warum die Schule die Jugendlichen nicht ausreichend aufs Leben vorbereitet und welche Hindernisse sie erwarten, erklärt Nicole Schwalbe watson im Interview.

Nicole Schwalbe hat viel Erfahrung mit den Lebensproblemen von Jugendlichen.
Nicole Schwalbe hat viel Erfahrung mit den Lebensproblemen von Jugendlichen.Bild: iStockphoto / Miljan Živković

watson: Warum denken Sie, dass Jugendliche "lebensdoof" sind?

Nicole Schwalbe: Ich habe 20 Jahre Jugendarbeit hinter mir und dort sind immer wieder Jugendliche, am Gymnasium oder im Jugendclub mit überwiegend Haupt- und Realschülern, auf mich zugekommen. Die haben gesagt: "Wir finden uns überhaupt nicht zurecht. Wir haben keinen Plan, wenn wir jetzt den Schulabschluss haben, wie das Leben funktioniert. Wir lernen, wie Heuschrecken atmen oder den Satz des Pythagoras. Aber wir lernen nicht, wie man einen Personalausweis beantragt, wie man eine Wohnung findet, wie das mit den Finanzen funktioniert oder ob wir eine Versicherung brauchen." Die waren relativ verzweifelt.

"Ich war überrascht, dass Jugendliche zum Teil nicht wissen, wie man einen Brief schreibt und ihn abschickt."

Wo hakt es denn besonders bei den Jugendlichen?

Das ist das Thema Verträge. Die jungen Leute wissen nicht, was genau bedeutet das, wenn ich einen Vertrag schließe, wenn ich eine Unterschrift druntersetze oder im Internet auf einen Button klicke. Dann sind sie ganz schnell in der Kostenfalle, gerade wenn es um Abonnements geht, wie im Fitnessstudio. Wenn sie den zweijährigen Vertrag mit dem Studio abschließen und nach drei Monaten stellen sie fest, sie können sich das gar nicht leisten oder das andere Fitnessstudios ist viel schöner. Sie denken dann, bei dem ersten gehe ich ja gar nicht mehr hin und dann brauche ich auch nicht zu bezahlen. Das unterschätzen die Jugendlichen wirklich, dass sie, wenn sie sich vertraglich binden, natürlich auch bezahlen müssen. Da kommt ganz schnell das Inkassounternehmen und statt 52 Euro für das Quartal sind das plötzlich 153 Euro, weil 100 Euro Inkassogebühren dazukommen. Das habe ich sehr oft festgestellt. Jeder dritte zwischen 14 und 25 Jahren war oder ist schon verschuldet.

Welche Wissenslücke hat Sie am meisten überrascht bei den Jugendlichen?

Ich war überrascht, dass Jugendliche zum Teil nicht wissen, wie man einen Brief schreibt und ihn abschickt. Die standen wirklich vor mir mit Postkarte oder Brief und haben gefragt: Was mache ich jetzt? Wie bezahle ich denn jetzt den Postboten, damit der den Brief mitnimmt? Das haben sie gar nicht verstanden. Es ist aber auch nicht mehr alltäglich, dass Menschen sich Briefe und Postkarten schreiben, weil man Messenger benutzt. Aber da musste ich schon schmunzeln.

Wie funktioniert gleich eine Spülmaschine?
Wie funktioniert gleich eine Spülmaschine?Bild: iStockphoto / Larisa Stefanuyk

Wie waren denn bisher die Reaktionen auf Ihr Buch?

Ich bin tatsächlich überrascht, weil sie durchweg positiv waren. Es kam bisher nicht eine einzige negative Bemerkung. Gerade die Eltern oder Großeltern, Tanten und Onkel haben mir als Feedback zurückgegeben, dass dieses Buch fantastisch geschrieben ist und sie selber die Hälfte nicht wussten. Viele sagen: "Ach Mensch, hätte ich das mal vor 20, 30 Jahren gehabt, dann hätte ich nicht so viele Fehler gemacht."

Und haben sich auch schon Jugendliche dazu geäußert? Es ist ja vielleicht nicht so angenehm, als lebensdoof bezeichnet zu werden.

Von den Jugendlichen habe ich auch schon Feedback bekommen. Es war eine 14-Jährige, die sich ein paar Tage vorher mit ihren Eltern darüber unterhalten hatte, dass man in der Schule eigentlich nichts lernt, was man so richtig für das Leben braucht. Sachen wie: Wie finde ich denn überhaupt eine Wohnung und worauf muss ich achten, wenn ich die angucke und wenn ich den Mietvertrag unterschreibe. Und dann hat sie tatsächlich ein paar Tage später dieses Buch geschenkt bekommen und war völlig begeistert. Das hat mich sehr gefreut, dass das Jugendliche anspricht, weil die natürlich auch schon im Internet unterwegs sind, wo sie Onlineshopping machen oder Klamotten über Vinted verkaufen.

"Wir haben ein Schulsystem, das komplett veraltet ist und überholungsbedürftig."

Schon in meiner Generation hat man sich gefragt: Warum lernt man solche Dinge nicht in der Schule? Wie erklären Sie sich, dass die Kultusministerien nicht reagieren und die Lehrpläne modernisieren?

Das wird die Zeit jetzt bringen. Der Aufschrei wird immer lauter. Ich denke schon, dass die Lehrer bereits umdenken. Aber wir haben ein Schulsystem, das komplett veraltet ist und überholungsbedürftig. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, wo wir Untertanen und Soldaten produzieren müssen, die alle gleich ticken, die keinen eigenen Willen haben, die ihre eigene Identität nicht kennen. Ich habe in meinem Lebensdoof-Podcast eine neue Folge veröffentlicht mit einem Gymnasiallehrer, der wirklich sagt: 99 Prozent von dem, was wir in der Schule vermitteln müssen, brauchen die Schüler später nicht mehr. Und er wünscht sich, dass solche Themen, die auch in meinem Buch angesprochen werden, mit in den Lehrplan aufgenommen werden.

Viele Jugendliche googeln erst mal, wenn sie etwas nicht wissen.
Viele Jugendliche googeln erst mal, wenn sie etwas nicht wissen.Bild: iStockphoto / Andrii Iemelyanenko

Und wie könnte man das erreichen?

Ich habe mit meinem Verlag zusammen Kultusministerien angeschrieben und wir haben versucht, dieses Buch auch in die Schulen zu bringen. Aber das ist wirklich unmöglich, weil die Kultusministerien sagen: Wir bevorzugen keine Bücher, egal was drin steht, Sie müssen sich an jede einzelne Schule selber wenden. Da muss unser Land einfach mehr Verantwortung übernehmen. Diese Themen sollten wir mit in die Schule aufnehmen, weil Lehrer als Akademiker eher in der Lage sind, diese Themen zu vermitteln als viele Elternhäuser. Man darf nicht vergessen, dass viele Elternhäuser gar nicht in der Lage sind, das zu vermitteln, weil sie es selber nicht gelernt haben. In dem Buch steckt ja mein halbes Jurastudium.

Solche lebenspraktischen Dinge in der Schule zu vermitteln, wäre ja auch ein Schritt in Richtung Chancengleichheit.

Gerade in Deutschland haben wir ja auch viele zugereiste Menschen, die erstmal die Sprache lernen und sich in einem neuen System zurechtfinden müssen. Die haben meist von rechtlichen Dingen keine Ahnung. Dadurch, dass meine Generation das schon nicht in der Schule gelernt hat, ist es natürlich auch schwierig, von den Eltern zu erwarten, dass sie das weitergeben. Selbst bei 40- oder 50-Jährigen sehe ich, dass sie beim Gewährleistungsrecht mit den Ohren schlackern. Sie wissen nicht, was sie tun sollen, wenn das Auto oder der Computer kaputt ist nach gerade mal drei Monaten. Dann stehen sie vor einem riesigen Fragezeichen: Wie funktionierte das jetzt mit dem Nachbesserungsrecht? Wie oft muss der Händler das reparieren? Ich kriege dazu immer wieder Fragen gestellt. Da ist ganz viel Nachholbedarf.

Nehmen die Kinder den Rat ihrer Eltern überhaupt an?

Es gibt auch sehr viele Jugendliche, die möchten nicht von ihren Eltern aufgeklärt werden. Die sagen: Ich bin jetzt groß, ich bin 18 Jahre, ich will jetzt alles alleine machen. Ich habe von meinen fünf Kindern einen Sohn, der ist gerade 18 geworden und der ist sehr stolz. Bis vor ein paar Wochen hat er mich gar nichts gefragt, der hätte sich eher die Zunge abgebissen (lacht). Er sagte: "Wenn ich nicht weiterkommen, dann google ich, dein Buch muss ich nicht lesen." Er sucht jetzt eine Wohnung und hat festgestellt: So einfach ist das doch nicht.

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