Xhem ist gerade 30 Jahre alt geworden, Gerrit 82. Zwischen den beiden liegen mehrere Generationen, viel Lebenserfahrung und sehr unterschiedliche Lebensrealitäten. Was sie eint, ist ihre Queerness. Tinder hat die beiden im Rahmen einer Webserie zusammengebracht, um queere Geschichten zu erzählen.
Im Gespräch mit watson berichten die beiden von den Struggles ihrer Generationen, den Vorteilen von Dating-Apps und was sie gerne miteinander tauschen würden.
Watson: Was bedeutet Queerness für euch heute?
Xhem: Für mich bedeutet Queerness heute vor allem eines: Freiheit. Die Freiheit, mich selbst zu entdecken, mich neu zu definieren, so zu sein, wie ich will – und das ohne Angst, sichtbar zu sein. Früher hatte ich diese Angst, als ich noch nicht "geoutet" war. Heute bin ich einfach stolz darauf, ich selbst zu sein.
Gerrit: Queer sein ist mein Lebensraum – mein Space, in dem ich meine Persönlichkeit authentisch leben kann.
Wie habt ihr euer Coming-out erlebt?
Gerrit: Ein klassisches Coming-out gab es früher gar nicht. Es fehlten die Begriffe, selbst "schwul" oder "homosexuell" waren kaum bekannt. Ich glaube, man kann sich heutzutage gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn für etwas einfach kein Begriff da ist, man es nicht benennen kann. Mit 16 hat mir mal ein anderer Junge erzählt, wie er sich fühlt, wenn er Mädchen sieht, und ich wusste: So bin ich nicht. Aber es gab kein Wort für mein Gefühl.
Und wann konntest du dieses Gefühl dann zuordnen?
Gerrit: Später – mit 23 – war ich in San Francisco. Da gab es Buchläden mit schwuler Literatur, das war eine ganz neue Welt. Ich hatte dort mein erstes sexuelles Erlebnis mit einem Mann, das war ein großer Schritt für mich. Zurück in Deutschland war die Szene noch kaum sichtbar. Aber Anfang der 70er entstanden dann die ersten schwulen Aktionsgruppen. Das war mein eigentliches Coming-out – nicht ein einzelner Moment, sondern ein Prozess.
Xhem: Ich kannte den Begriff Coming-out schon immer, aber ich habe eine schwierige Beziehung dazu. Ich habe nie verstanden, warum queere Menschen sich outen müssen. Heteros tun das ja auch nicht. Trotzdem ist das innere Coming-out – also sich selbst einzugestehen, queer zu sein – oft der schwerste Teil. Mein äußeres Coming-out begann erst, als ich mit 21 nach Berlin zog. Davor habe ich mich nur online in Foren mit anderen ausgetauscht – über Ängste und Sorgen.
Gerrit: Und ich würde noch ergänzen: Ich habe mich auch als bisexuell verstanden. Ich war verheiratet, habe Kinder – das hat mein Leben nach außen hin "hetero" wirken lassen. Weder die heteronormative Gesellschaft noch die schwule Szene konnten damit gut umgehen. Viele dachten, ich hätte mich nicht "richtig getraut", queer zu leben. Aber das war nicht der Fall. Heute sehen wir das zum Glück differenzierter.
Xhem, was würdest du sagen: Was ist heute als queere Person leichter – und was ist nach wie vor schwierig?
Xhem: Leichter ist sicher, dass es dank Menschen wie Gerrit heute mehr Räume gibt, in denen wir einfach wir selbst sein können. Aber Sichtbarkeit bedeutet nicht automatisch Sicherheit. Auch in Berlin gibt’s immer noch komische Blicke, beleidigende Sprüche – Queerfeindlichkeit ist noch da. Sichtbar zu sein heißt eben auch angreifbar zu sein.
Gerrit, du hast deine aktuelle Beziehungsperson über Tinder kennengelernt. Glaubst du, das wäre offline auch passiert?
Gerrit: Wohl kaum. Thea war nur eine Woche in Berlin, um auf einen Hund aufzupassen. Unsere Wege hätten sich im echten Leben wohl nie gekreuzt. Online war der Kontakt sofort da – und daraus ist mehr entstanden. Aber auch online muss man aufpassen. Manche Leute glauben, sie können ältere Menschen auf solchen Plattformen hereinlegen. Sie erhoffen sich Geld, ein Visum oder andere Vorteile. Aber insgesamt überwiegen für mich die positiven Erfahrungen.
Online-Dating hat wohl seine Vor- und Nachteile. Was erlebst du da in deiner Bubble, Xhem?
Xhem: Klar, es gibt diese Frustmomente – lange Chats, Telefonate, Hoffnung, – und dann: Ghosting. Aber Online-Plattformen waren für mich und viele andere immer ein Safe Space. Da konnte ich ich selbst sein, ohne sofort verurteilt zu werden. Ich lerne bis heute 99 Prozent meiner Dates online kennen. Ich fühle mich da einfach sicherer. Im Club jemanden ansprechen? Viel riskanter. Online weiß ich: Der andere ist queer, ich bin queer – let's go.
Gerade ist Pride Month – und die weltpolitischen Entwicklungen zu Diversity sehen nicht allzu rosig aus. Wie geht es euch damit?
Xhem: Was mir Hoffnung macht, ist auf jeden Fall die neue Generation. Wie offen sie ist, wie selbstverständlich sie oft mit dem Queersein umgeht. Ich habe das Gefühl, dass das bei vielen schon normalisiert ist. Durch die Digitalisierung und den ständigen Zugang zu anderen Perspektiven – da spüre ich einfach eine große Offenheit. Als ich jünger war, war das alles viel schwieriger. Und bei Gerrit war es ja noch mal ganz anders – da war es ja teilweise schon ein Tabu, nur bestimmte Wörter überhaupt auszusprechen.
Gerrit: Es wird ja meist sehr düster über die Vergangenheit gesprochen – und ja, es war hart, schwierig, oft auch schmerzhaft. Aber man darf nicht vergessen: Wenn man damals trotz aller Widerstände Erfolg hatte, war das ein ganz besonderes Gefühl. Es hatte etwas Aufregendes, etwas Euphorisierendes. Heute ist vieles einfacher, sichtbarer, aber früher war jeder kleine Erfolg ein echtes Highlight.
Was glaubt ihr, könnt ihr als Vertreter unterschiedlicher queerer Generationen voneinander lernen?
Xhem: Dieser Mut, den ältere Generationen hatten, ist für mich wahnsinnig inspirierend. Zwischen Gerrit und mir liegen über 50 Jahre – was da alles passiert ist, ist einfach unglaublich. Wenn ich ihn anschaue und daran denke, was er in meinem Alter durchleben musste – und was ich heute eben nicht mehr muss, weil er es schon für uns durchgestanden hat – das ist total bewegend.
Gerrit: Ich würde mir wünschen, dass meine Generation offener wird. Dass sie spontan sagt, was sie fühlt, was sie bewegt – dass sie sich schminkt, wenn sie will, ohne Rücksicht auf alte Vorstellungen. Dieses "So war es schon immer" – davon müssen wir uns lösen. Es ist wichtig, offen für Neues zu bleiben. Sich mit dem auseinanderzusetzen, was heute die Welt prägt – auch wenn's anstrengend ist. Aber genau da liegt die Chance, weiterzugehen.
Gibt es Momente in eurem queeren Leben, die ihr gerne miteinander tauschen würdet?
Xhem: Was ich gerne mal erlebt hätte, wäre die Zeit ohne Handys, ohne das ganze Digitale. Einfach dieses Gefühl, dass man rausgehen muss, um jemanden kennenzulernen. Dass man sich überwinden muss, jemanden anzusprechen – mit dem Risiko, angeschaut zu werden oder auch zu scheitern. Dieser direkte, echte Kontakt. Heute kann man so vieles im Safe Space machen – alles ist versteckt, anonym. Aber dieses "Ich geh’ jetzt raus und tu's einfach" – das hätte ich gerne mal gespürt.
Gerrit: Dann schmeiß dein Handy in die Spree und leg' los!
Xhem: So leicht ist das nicht, lieber Gerrit. Ohne Handy ist man heute ziemlich aufgeschmissen. Aber ich nehme deinen Tipp auf jeden Fall mit. Und was würdest du gerne mit mir tauschen?
Gerrit: Noch einmal 70 Jahre queeres Leben vor mir haben! Und: einmal auf einer Party von einem ganzen Schwarm gutaussehender Männer umgarnt werden.
Xhem: Ja, davon träume ich auch!